Alles begann damit, dass meine Handyhülle kaputtging. Ich
hatte sie in Indien auf einem Markt gekauft, auf dem es zuging, wie in
einem Roman von Rafik Schami. Turbulentes Treiben, bunte Stoffe und funkelnder
Modeschmuck türmten sich in den Auslagen, zwischen denen Kinder, Touristen und
Marktverkäufer wuselten, schrien und lachten. Eine Überstimulation sämtlicher
Sinne. Meine Handyhülle war das perfekte Souvenir von diesem Markt: ein
Kitschmonster in Pastell, mit Strasssteinen, Plastikapplikationen in
Schleifen-, Schmetterling- und Sternform und einem integrierten Herzspiegelchen
zum Lippenstift nachziehen für unterwegs. Es gab nur zwei Arten von Reaktionen,
wenn Freunde, Verwandte oder Fremde das Ungetüm erblickten: Abscheu oder
Begeisterung.
Aber wie zu erwarten war, lösten sich mit der Zeit immer mehr
Steinchen aus dem Gehäuse, das Plastik begann sich gelblich zu verfärben wie
Nikotinfinger, und irgendwann brach die Hülle endgültig entlang des
Spiegelherzens entzwei. Ich besorgte mir zunächst keine neue, trauerte um den
Verlust, und es passierte, was passieren musste: Eine Kettenreaktion des Kaputtgehens
setzte sich in Gang. Schon bald zog sich der erste Riss über den Glasbildschirm
meines Handys, und wenig später beschädigte ein Sturz eine der drei Kameralinsen.
Sie funktionierte trotzdem noch irgendwie, und mir gefiel der Effekt, den die
zersprungene Linse auf meine Fotos hatte. Das Licht brach sich nun anders, es
sah immer ein wenig aus, als ob die Sonne ins obere rechte Eck meiner Bilder
hineinblinzeln würde, auch an regnerischen Tagen.
Irgendwann kam dann das Geräusch hinzu. Sobald ich die Kamera-App
öffnete, erklang ein hoher Pfeifton. Die Menschen um mich herum begann er in
den Wahnsinn zu treiben. Aber ich mochte ihn irgendwie. Jedes Mal, wenn ich ein
Foto machte, kam ich mir vor wie eine Fotografin aus dem 20. Jahrhundert, die
unter einem schwarzen Tuch verschwindet, den Blitz aufleuchten und die Luft
pfeifen lässt. Stichwort: . Mich störten die Mängel
nicht – im Gegenteil.
Ich begann zudem, mein Handy seltener zu nutzen.
Irgendwann erklang der Pfeifton nämlich nicht mehr nur, wenn ich die Kamera-App
öffnete, sondern auch bei anderen Programmen. Meine Bildschirmzeit sank, ich
ließ das Handy in der Tasche und beobachtete stattdessen jene kaputte Stadt,
durch die mich die dauerverspätete U1 trug. Wer in Berlin wohnt, ist
zwangsläufig damit konfrontiert: dem Kaputten, dem Mangelhaften, dem sich in
Dauerreparatur befindenden. Was können wir lernen von den kaputten Dingen, vielleicht sogar über das Kaputte in uns selbst? Liegt in der Akzeptanz von zerbrochenen Dingen die
Chance auf eine Form der Selbstakzeptanz?
Die Wowigkeit des Neuen und die Unauffälligkeit des Alten
Es kann herausfordernd, aber auch anregend sein, sein Leben mit kaputten Alltagsgegenständen zu
bewältigen. Es erzählt womöglich etwas über
die eigenen Unzulänglichkeiten, die eigene Unvollkommenheit: dass sie okay
sind, vielleicht sogar liebenswert, dass man gelassen mit ihnen umgehen kann. Kaputte Dinge begleiten uns auf eine Weise,
die funktionierenden Dingen nicht offensteht. Martin Heidegger stellte dazu
einmal eine Theorie auf, am Beispiel einer defekten Türklinke. Die Klinke stehe
uns stets griffbereit zur Verfügung, wir griffen reflexartig und unbewusst nach
ihr, ohne einen Moment über sie nachzudenken. Dieselbe Türklinke, sagte
Heidegger, werde jedoch sichtbar, sobald sie kaputtgeht. Weil sie nicht
funktioniere, bemerkten wir sie erst. Wir untersuchten sie, versuchten
herauszufinden, was los ist mit ihr und wie wir sie reparieren könnten.
Man kann also sagen: Manche Dinge entdecken wir erst, wenn
sie kaputtgehen. Und ist es nicht eine tragische Binsenweisheit, dass wir erst
schätzen, was wir besaßen, wenn wir es verloren haben? „Ich würde sie abschwächen“, sagt Professorin Petra Gehring zu Heideggers These.
„Wir entdecken die Dinge , wenn sie kaputtgehen.“
Gehring ist Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt und beschäftigt sich unter anderem mit dem Verschleiß, der Zerstörung und Transformation von Körpern und Dingen im technischen Zeitalter. Mit dem Kaputten kennt sie sich also aus. In der Philosophie des Kaputten unterscheidet sie zwischen alter (Heideggers Türklinke) und neuer Technologie. „Technikphilosophisch betrachtet ist das Kaputte interessant, weil daran das Wesen der Technik deutlich wird. Optimale Technik nehmen wir gar nicht mehr als solche wahr, sie wird zur Infrastruktur. Unspürbar soll sie leisten, was wir wollen. Neue Technologien verhalten sich hingegen anders. Sie exponieren sich selbst. Das Kaputte entlarvt beides. Die Wowigkeit der neuen Technologien und die Unauffälligkeit der Alten.“
Mir selbst fällt auf, dass das Kaputte der Infrastruktur – klemmende Haustüren, verspätete U1, die unzähligen Berliner Baustellen, auf denen nie jemand zu arbeiten scheint – mich frustriert, während kaputte neuere Technologie – etwa mein Handy – mich nicht nur weniger stört, sondern sogar anregt. Liegt das an meiner Abwehrhaltung gegen alles Autoritäre? Meiner Auflehnung gegen jeden Entmündigungsversuch, egal, ob er nur von Menschen oder Technik ausgeht? In einer Welt, in der Pickel von Fotos weggefiltert, Wortfindungsprobleme weggegoogelt und lästige Arbeitsaufträge mit einem KI-Prompt wegdelegiert werden können, hat die Umarmung des Kaputten etwas Erfrischendes, vielleicht auch Rebellisches. Es zu bändigen und kurzzeitig zu überwinden, kann ein unverhofftes Erfolgserlebnis sein.