So geht es fort, man möchte rasend werden

Der US-amerikanische Theatermacher Robert Wilson hatte vor allem ein Ziel: die Austreibung des echten Lebens aus der Kunst. Naturalistisches Theater, in dem alle so tun, als handelten sie „natürlich“, empfand er als das Unnatürlichste, was Menschen miteinander veranstalten können. Das Künstliche kam ihm natürlicher vor. Also stilisierte er seine Figuren bis in die Fingerspitzen. Jede war ein wandelndes Sortiment der Gesten, ein Gliederbündel, das Zeichen in die Welt sandte und Finger, Arme und Beine bewegte, als wären es die Flaggen eines Lotsen. Streng genommen bewegten diese Wesen sich gar nicht selbst. Sie wurden von Wilson bewegt.

Sie sprachen auch nicht selbst – fremde Laute kamen aus ihren Mündern. Wilsons Begeisterung für Echos, Schattenrisse, synchronisierte Stimmen und nachhallende Worte, also für alle von ihrem Ursprung getrennten Lebensspuren, seine Liebe zum führerlos dahingleitenden Schauspieler, zur Gespenstermechanik – das alles war für sein Theater wesentlich.

Als er vor zehn Jahren am Berliner Ensemble Goethes (beide Teile) inszenierte, da schien es, als ritte eine große Häme gegen Goethes Figuren die Aufführung. Wilson hatte sie alle am Faden, Faust, Gretchen, Helena: Marionetten, von oben gezogen, aber zu schwer für die Himmelfahrt. Puppen, durch die das rastlos nervöse Zucken ihres Spielers ging. Die Aufführung wirkte, als sei sie Ausdruck eines Kontrollzwangs und Sicherheitswahns, ein Versuch der Züchtigung allen Willens. Und der Einzige, der, am anderen Ende der Fadenleitung, dem Regisseur Widerstand und Eigensinn entgegensetzte, war Mephisto, der Teufel. Von ihm kam alle Lust, alle Erotik. Was er nicht berührte, das blieb kalt.

Oft war in seinem Theater Bob Wilson selbst der Teufel. Über seinen Figuren schien sich eine riesige Schere drohend zu öffnen und zu schließen im ewigen Schnipp-Schnapp des großen Bob: Euch schneide ich nicht bloß die Daumen ab, euch kappe ich die Lebensfäden!

Manchmal machte Wilsons sich den Spaß, seine Spieler während einer Szene wie Sterne verglühen zu lassen: Man sah vom Menschen dann in einem jäh schrumpfenden Scheinwerferkegel nur noch die Hand, den schreienden Mund, die Spitze eines leuchtenden Fingers – als befände sich der Rest schon im Wilson-Jenseits. So bewies jede Bewegung auf der Bühne die Allmacht des Regisseurs. Der lebende Scherenschnitt, der sprechende Stummfilm, das zähneknirschende Rokoko-Theater, das vereisende Musical – in guten Momenten brachte Wilson alle Genres zur Blüte und trug sie beiläufig zu Grabe.

CNN war sein Kaminfeuer

Der stumm aufgerissene Mund war das Wahrzeichen von Wilsons Theater, sein : Einer möchte schreien, aber aus seiner Kehle kommt kein Laut. Man lag wohl nicht falsch, wenn man sich durch seine Theaterfiguren an Gestalten der griechischen Mythologie erinnert fühlte, an Sisyphos, Ikarus, Prometheus. Diese Wesen wirken wie eingesperrt in ihre Körper, ihr Schicksal. Und im Moment, da ihnen klar wird, in welcher Situation sie sich befinden, entfährt ihnen der stumme Schrei.

Vor zwei Jahren traf ich Robert Wilson in Berlin zu einem Gespräch. In seinem Hotelzimmer am Gendarmenmarkt lief stumm das Fernsehgerät – Wilson reiste andauernd, verbrachte jährlich Hunderte Stunden im Flugzeug und Tausende in Hotels, und der stumme, CNN sendende Hotelfernseher war wohl so etwas wie das immer entzündbare, stets mitreisende Kaminfeuer dieses Globetrotters. Er war in Berlin, um gemeinsam mit der großen Schauspielerin Angela Winkler Alfred Jarrys Bühnengroteske  als Hörspiel für den RBB einzusprechen. Wir saßen schon eine Stunde zusammen, da fragte ich ihn, welche Bedeutung der Schrei in seinem Theater habe. Er antwortete, wie meist, mit einer lakonischen Replik – der dann eine oder zwei Geschichten folgten.

Die kurze Antwort: „Schauen Sie sich den schreienden Papst auf dem Gemälde von Francis Bacon an. Da ist alles enthalten.“

Dann kam die erste Geschichte: „In den Sechzigerjahren habe ich im Goldwater Memorial Hospital in New York gearbeitet – auf einer Station, auf der 50 Menschen in Eisernen Lungen lebten. Meine Aufgabe war es, sie zum Sprechen zu animieren, ihnen geistige Abwechslung zu bieten. Eiserne Lungen, das sind diese Tanks, aus denen nur die Köpfe herausschauen: Beatmungsgeräte, die die Menschen am Leben erhalten. Auf dieser Station lernte ich einen 33-Jährigen kennen, der einen Autounfall überlebt hatte; er war gelähmt, und er hat nicht gesprochen, aber manchmal brachte ich ihn zum Lachen. Und als ich mich nach drei Jahren von ihm verabschiedete, sprach er endlich. Er sagte: Ich habe meine Lage akzeptiert; sie ist für andere ein größeres Problem als für mich. Offenbar hatte er ein reiches inneres Leben entwickelt.“

Dann erzählte Wilson die zweite Geschichte. Sie handelte von der japanischen Choreografin Suzushi Hanayagi, mit der er in Deutschland bei zwei großen Produktionen zusammengearbeitet hatte, bei (Schaubühne Berlin, 1979) und bei Shakespeares (Frankfurter Schauspiel, 1990, damals spielte Marianne Hoppe die Titelrolle). Er habe sie sehr lange Zeit aus den Augen verloren und dann irgendwann in Japan besucht; sie sei schon dement gewesen und habe seit Jahren kein Wort mehr gesprochen. Da habe er eine Handbewegung gemacht, die sie sich einst gemeinsam für den Frankfurter Lear ausgedacht hätten. Sie erinnerte sich, machte die Bewegung nach – und begann zu sprechen.

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Es wird hier gleich um Schönheit gehen, um Körperbilder und Optimierungsdruck, es…