Keine Angst vor dem Souverän

Die aktuelle Demokratiekrise, die zahlreiche Länder erfasst hat, wird begleitet von einer Krise der Demokratietheorie. Auf der einen Seite stehen jene, die sich als Verteidiger der liberalen Demokratie verstehen und nun, angesichts des Erstarkens populistischer Kräfte, bereit sind, demokratische Souveränität einzuschränken. Auf der anderen Seite stehen jene, die das Mehrheitsprinzip stärken und den Rechtsstaat schwächen wollen. 

Die einen fragen sich, wie man die Gebildeten zur Beteiligung ermutigt und die anderen von der Mitwirkung fernhält. Sie entwickeln eine Sympathie für die Expertokratie und setzen auf eine immer weiter reichende Verrechtlichung, die den politischen Entscheidungsspielraum von Regierungen und Parlamenten einengt. Die anderen hingegen sympathisieren mit Orbáns Vision einer illiberalen Demokratie, die im Namen der Mehrheit die Verfassung aushöhlt, Minderheiten bedroht und individuelle Freiheitsrechte beschneidet. Doch beide Lager greifen zu kurz.

Einer der verbreitetsten politiktheoretischen Irrtümer besteht darin, die Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip zu identifizieren. In der Politikwissenschaft ist dann oft die Rede von und Institutionen, wobei letztere angeblich die Demokratie einschränken, während allein erstere ihr eigentlicher Ausdruck sind. Doch das ist ein Missverständnis. Warum, zeigt ein Gedankenexperiment: Ich kann einer politischen Ordnung nur dann zustimmen, wenn die Mehrheit nicht darüber entscheidet, welchen Beruf ich ergreife, mit wem ich wie zusammenlebe, was ich sagen darf und so weiter. Ohne die Garantie meiner individuellen Rechte fehlt die Grundlage für meine vernünftige Zustimmung.

Um Individualrechte zu wahren und Minderheiten zu schützen, um sicherzustellen, dass der öffentliche Vernunftgebrauch möglich ist, bedarf es einer von der jeweiligen Exekutive nicht kontrollierten Justiz, auch der Verfassungsjustiz. Diese stellt sicher, dass Minderheitenrechte von der jeweiligen Mehrheit nicht unzulässig eingeschränkt werden, dass Individuen sich auch dann frei äußern können, wenn diese nicht mit der Regierungsmeinung übereinstimmen, dass es keine Gängelung, Verfolgung und Inhaftierung von Oppositionellen gibt, dass wir in einem freien Land leben. Freiheit schränkt Demokratie nicht ein – sie ist ihre Voraussetzung.

In den USA wird der Rechtsbruch längst offensichtlich

Diejenigen, die meinen, dass es der Verfassungsgerichte doch eigentlich in einer reifen Demokratie nicht bedarf, weil die Mehrheit schon für die Einhaltung der Verfassungsnormen achten wird, spielen ein gefährliches Spiel. Es ist auffällig, dass populistische Parteien, sobald sie dazu die Macht haben, als Erstes die Verfassungsgerichte, als Zweites die Pressefreiheit und als Drittes rechtsstaatliche Normen generell infrage stellen. Dass sie sich über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen, Minderheiten drangsalieren, die Presse für ihre eigenen politischen Zwecke missbrauchen und eine alarmistische Stimmung verbreiten, um Emotionen zu schüren und den öffentlichen Vernunftgebrauch zurückzudrängen. 

Ohne die Einhaltung institutioneller Regeln und ohne ein Ethos zivilgesellschaftlicher Kultur erodiert die demokratische Ordnung. Wer meint, die Übernahme der Regierung durch populistische Kräfte sei keine Gefahr für die Demokratie, der werfe einen genaueren Blick auf die aktuelle Entwicklung in den USA. Die Regierung bricht offen Verfassungsnormen und hält sich nicht an Gerichtsentscheidungen. Sie besetzt führende Regierungsämter nach ökonomischen und juristischen Interessen und wrackt staatliche Institutionen ab, um durchregieren zu können.

Manche behaupten, es sei ausreichend, wenn die Bevölkerung in regelmäßigen Abständen ihre Regierung abwählen kann und diese Abwahl dann auch realisiert wird. Doch was passiert, wenn, wie gegenwärtig in der Türkei, der aussichtsreichste Oppositionsführer, Bürgermeister der größten Stadt, unter dem Vorwand der Korruption ins Gefängnis gesperrt wird und mit ihm ein Großteil der oppositionellen Parteiführung; wenn Demonstrationen gegen die Regierung unterbunden und ihre Gegner kriminalisiert werden, wenn die Regierung die Medien für ihre Zwecke instrumentalisiert? Dann ist es um das freie Spiel der politischen Kräfte geschehen. Dann gibt es keine wirksame öffentliche Kontrolle des Regierungshandelns mehr. Und im schlimmsten Fall scheitert die Abwahl dann daran, dass der Abgewählte behauptet, die Wahl sei gefälscht worden oder es habe ausländische Einflüsse gegeben.

Die Freiheit ist gefährdet

Diejenigen, die den Rechtsstaat schwächen wollen, um die Demokratie zu stärken, müssen erklären, wer, wenn nicht ein unabhängiger, starker Rechtsstaat, die Bedingungen einer offenen Gesellschaft und einer pluralistischen Demokratie sicherstellen soll. Die Antwort, dass dies in den Händen der jeweiligen gewählten Regierung, oder bei den Mehrheitsfraktionen in den Parlamenten am besten aufgehoben sei, wäre nun doch zu viel der politischen Naivität: Warum soll die Regierung ein Interesse daran haben, die Opposition zu stärken? 

Warum soll sie ein Interesse daran haben, dass Meinungen öffentlich geäußert werden können, die sie für gefährlich hält? Warum soll ausgerechnet die Regierung ein Interesse daran haben, dass einzelne Personen, die nicht auf öffentliche Resonanz setzen können, ihre Individualrechte wahrnehmen können? Man kann und sollte dem humanistischen Ethos aufgeklärter demokratischer Politik einiges zutrauen, aber nicht alles. Ohne Rechtsstaat, ohne juristische Normen, die die humanistischen Grundlagen der Demokratie absichern, die für Gleichheit vor dem Gesetz, die Einhaltung von Verfassungsnormen, die Freiheiten der Individuen und den Schutz von Minderheiten sorgen, wäre die Demokratie gefährdet.

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