Sein Klavier blubbert

Nach drei Kilometern mit der Tram vom
Hauptbahnhof Richtung Westen, über das Elsterbecken, wo der Fluss breit wird,
vorbei erst am Stadion und dann an der Fußballschule von RB Leipzig, landet man
in einer schöneren und leereren Version von Berlin. In den Stadtteilen Lindenau
und Plagwitz war einst Industrie, heute ist dort saniertes Wohnen – im
Gegensatz zu Prenzlauer Berg sogar mit jüngeren Kreativen. Am Kanal lässt es sich
schön flanieren, und an der Ecke steht noch immer der Laden, in dem man morgens
um sechs ein Schnitzel essen und dabei rauchen kann. Ein sozialer Brennpunkt ist das sicher nicht. Aber auf dem Lindenauer Markt gibt es nachts gelegentlich Stress unter Jugendgruppen, „da ist halt das Leben“, sagt Vincent Meissner, der um die Ecke wohnt, übt und komponiert.
Mit 16 Jahren ist er aus der sächsischen Provinz nach Leipzig gezogen, um
Jazzpiano zu studieren.

Jetzt ist Meissner 25 und veröffentlicht
mit seinem Trio schon das dritte Album: . Zehn Stücke, davon
zwei Popcovers, nur gut 40 Minuten Spielzeit. Musik mit geometrischer Klarheit
und jugendlicher Spielfreude. „Ich mag simple oder reduzierte
Strukturen, die ich dann verkette zu einer Art Collage“, sagt Meissner,
als wir nach einer Dreiviertelstunde Kiezführung vor einem Café sitzen. Auf dem
neuen Album hört man zunächst einfache Dur-Akkorde. Mit der Zeit türmt Meissner
sie auf, wobei sich die Harmonie dennoch dehnen und strecken kann. Die klaren
Konturen in seiner Musik suchen nicht die unbedingte Romantik in dauerweichem
Moll. Selbst wenn Innerlichkeit aufkommt, wirken die Akkorde belastbar. Meissner
erklärt das mit einfacher Harmonielehre, erzählt, welche stabilen
Kirchentonleitern er bevorzugt – dorisch, mixolydisch, lydisch – und warum er
viel in D komponiert. „Ich sehe da Farben, und bei D-Dur sehe ich Gelb.
Vor ein paar Jahren habe ich Gelb noch gehasst, jetzt ist es meine Lieblingsfarbe.“

Meissner trägt eine Vintage-Stoffhose,
ein farbiges loses Hemd mit, tatsächlich: Gelbanteilen, und eine goldene
Damenarmbanduhr, die eigentlich schon lange nicht mehr geht. Es ist etwas Besonderes,
jungen Menschen wie ihm gegenüberzusitzen, die abseits der großen
Scheinwerfer schon so viel erspielt, erkämpft und geleistet haben. Meissner
wirkt erschöpfter und weiser als viele Gleichaltrige, aber nicht altklug, weil er
beim Tempo seiner Entwicklung eben ahnt, dass selbst auf seinem Level noch mehr
kommen wird. „Das ist schon cool“, sagt er: „Wenn du im Trio
nach fünf Jahren merkst, dass du nicht mehr zwei Tage, sondern zwei Stunden
brauchst, um etwas zu entwickeln. Wie wird das in 15 Jahren sein? Ich habe voll
Bock, das zu erleben!“

„Ich war sofort hooked“

Die Augen hängen etwas tief an diesem
späten Vormittag, Meissner arbeitet gern nachts, „wenn keine Pflichten
anklopfen“. Doch um fünf weckte ihn die Tram, sagt er in einem
freundlichen Ton, der ganz leicht sächsisch eingefärbt ist. Ein bisschen hört
man Meissners Nachtschattigkeit auch seiner Musik an. Ab ungefähr drei Uhr verfliegen einem ja die schön verschmusten Gedanken, sie weichen einem mal kühlen, mal dunklen,
mit etwas Glück oder Geschick auch versöhnlichen, weil klaren Blick auf die
Dinge. heißt auf eine Etüde dieser nächtlichen
Klarheit. „Diesen einfachen Song habe ich ursprünglich für eine
instrumentale Synthieband geschrieben, weil ich damals so unfassbar auf das
Album stand, kennst du das?“

Die Platte erschien 2019, drei
US-Jazzer, darunter der Pianist und Keyboarder Craig Taborn, spielen darauf wunderschöne,
post-rockige, psychedelische, aber selten ausufernde Musik. Meissner scheut
sich keine Sekunde, die Werke anderer und ihren Einfluss zu nennen und mit
leuchtenden Augen davon zu erzählen. Er sie, würde seine
Generation wohl sagen. „Als ich mir das Album endlich reingemacht habe,
war ich sofort , fragte mich aber ständig: Wann spielt Taborn sein
erstes Pianosolo?“ Die Antwort: gar nicht. Vielleicht trägt genau das dazu
bei, dass auch für Leute zugänglich erscheint, die nicht „im
Jazz-Game“ sind. Denn auch hier gibt es höchstens anderthalb Soli.

Meissner sagt: „Na, es gibt zwei auf
meinem Album.“ Okay, aber anders als man denkt. wirkt
zunächst im Vorspiel wie eine isolierte, punktierte Phrase aus einer
Bach-Etüde, die Meissner dreht und wendet und neu zusammensteckt, bis er nach
zwei Minuten tatsächlich ein Solo spielt. Es sind die einzigen Takte auf ,
in denen man einige bluesige Töne hört, während die Taktart aber ungeraden
Schlägen folgt. Nach zwei Minuten ist der Spuk vorbei, und die Nummer ist
wieder ein Song, nur dass Henri Reichmann am Schlagzeug nun mehr treibt.

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