Ukraines Parlament entzieht Korruptionsermittlern die Unabhängigkeit

Das ukrainische Parlament hat zwei Antikorruptionsbehörden die Unabhängigkeit entzogen. 263 Abgeordnete stimmten für ein entsprechendes Gesetz, das Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstagabend trotz Widerstands unterzeichnete. Damit werden das nationale Antikorruptionsbüro und die für Korruption zuständige Staatsanwaltschaft nun dem Generalstaatsanwalt unterstellt, der wiederum von Selenskyj ernannt wird. Die EU-Kommission kritisierte den Schritt. Korruption und die Zweckentfremdung von Geldern sind ein weitverbreitetes Problem in der Ukraine.

Nichtregierungsorganisationen hatten das Gesetz zuvor stark kritisiert. Am Abend versammelten sich Hunderte vor
allem junge Menschen in Sichtweite des Präsidentensitzes in Kyjiw zu Protesten. In Sprechchören riefen sie „Schande, Schande“. Sie
forderten ein Veto des Präsidenten gegen das Gesetz. Auch in Lwiw
(Lemberg), Odessa und Dnipro gab es Proteste. Kritiker werfen Selenskyj
seit längerem zunehmend autoritäre Tendenzen vor. 

„Heute wurde mit den Stimmen von 263 Abgeordneten die Infrastruktur zur
Korruptionsbekämpfung zerstört“, sagte der Chef des nationalen
Antikorruptionsbüros, Semjon Krywonos, vor Journalisten. Laut der
ukrainischen Nichtregierungsorganisation Anti-Corruption Action Center macht das Gesetz die
Antikorruptionsbehörden weitgehend bedeutungslos. Die Organisation fürchtet, der
Generalstaatsanwalt werde „die Ermittlungen gegen alle Freunde“ von Präsident
Selenskyj einstellen.

EU-Kommission spricht von „ernsthaftem Rückschritt“

Auch von der EU kam Kritik. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach
von einem „ernsthaften Rückschritt“ auf dem Weg der Ukraine zu einem
EU-Beitritt. Rechtstaatlichkeit und unabhängige Behörden im Kampf gegen
die Korruption blieben „im Mittelpunkt der EU-Beitrittsverhandlungen“,
betonte sie im Onlinedienst X. EU-Kommissionssprecher Guillaume Mercier mahnte, dass die „erhebliche
finanzielle Unterstützung“ von EU-Institutionen für die Ukraine „von Fortschritten in den
Bereichen Transparenz, Justizreform und demokratische Regierungsführung“
abhänge.

Das ukrainische Parlament reagiert mit dem neuen Gesetz auf mutmaßliche Spionage. Am Montag hatte der ukrainische Inlandsgeheimdiensts SBU einen Mitarbeiter des Antikorruptionsbüros festgenommen unter dem Vorwurf, ein russischer Spion zu sein. Der Geheimdienst beschuldigte den Verdächtigen, geheime Informationen an einen Sicherheitsmann des 2014 gestürzten ukrainischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch weitergegeben zu haben. Dieser gilt als Verbündeter von Russlands Präsident Wladimir Putin und lebt seit seiner Flucht 2014 in Russland

Geheimdienst hatte Büros durchsucht

Zuvor hatte der SBU Räume des Antikorruptionsbüros (Nabu) sowie der auf den Kampf gegen Korruption spezialisierten Sonderstaatsanwaltschaft durchsucht. Das Büro teilte mit, es habe mehr als 70 Durchsuchungen gegeben, die sich gegen mindestens 15 Mitarbeiter richteten. Einen richterlichen Beschluss habe der SBU nicht vorgelegt.

Besorgt zeigte sich auch die G7-Gruppe großer Industrieländer, die eine wichtige Rolle bei der
Finanzierung der Ukraine spielt. Sie beobachte
den Umgang mit der Antikorruptionsbehörde und die Ermittlungen gegen
Mitarbeiter des Büros, teilte die Gruppe mit. Vertreter eines G7-Gremiums trafen sich nach eigenen Angaben mit Vertretern der Behörde und wollten nun ihre jeweiligen Regierungen über das Geschehen informieren.

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International landete die Ukraine 2024 auf Platz 105 von 180 Ländern.