Ungefähr jede Sekunde lädt eine Künstlerin, ein Künstler,
eine Band irgendwo auf der Welt einen Song beim Musikstreamingdienst Spotify
hoch. Also tatsächlich: Fast 100.000 pro Tag, die Quellenlage variiert. Über
100 Millionen Songs hält Spotify, Weltmarktführer beim Musikstreaming, nach eigenen Angaben verfügbar. So viel Musik kann kein einzelner Mensch hören, so viel Musik
wollen vermutlich auch die mittlerweile bald 700 Millionen monatlichen
Nutzerinnen und Nutzer von Spotify nicht hören. Zugleich mehren sich Hinweise auf
KI-generierte Fakebands mit Hunderttausenden Hörern pro Monat; die Urheberschaft ist bei diesen Fakebands unklar. Nicht nur Menschen, auch Maschinen machen immer
mehr Musik.
Es gibt auf der Welt also mittlerweile sehr viel Musik. Das ist so, weil sie so
leicht wie nie zuvor aufzunehmen, zu vertreiben und verfügbar ist. Und die
große Frage ist: Wie bekommt der Überfluss der Musik, wie verändert es den
nicht nur ökonomischen Wert, der ihr beigemessen wird? Ab wann ist mehr Musik,
ist größere Auswahl nicht mehr besser? Für die Musikbranche, für Musikerinnen
und Musiker, für Hörerinnen und Hörer?
Um den Epochenbruch zu verstehen, der mit dem Überfluss an
Musik verbunden ist, muss man daran erinnern, dass die Popmusik als Kunstform
seit den Sechzigerjahren nicht nur in Songs und bestenfalls Hitsingles gedacht
wurde, sondern vor allem in der Veröffentlichungsform Album. Im Künstleralbum bekam Pop seine Werkform. Oft war und ist so ein Album das Resultat von monate-,
teilweise jahrelanger Arbeit. Es nicht nur eine Ansammlung von Songs, sondern
oft ein konzeptuell durchdachtes Gesamtwerk. Viele Alben, von der Beach Boys über Pink Floyds bis hin zu Radioheads , entstanden in monatelanger Studioarbeit und erschließen sich
erst durch wiederholtes Hören. Auch heute noch gibt es Künstlerinnen und
Künstler wie Kendrick Lamar oder Little Simz
, die diese Tradition weiterführen. Ihre
Alben entfalten ihr volles Bedeutungsspektrum erst mit Zeit, Aufmerksamkeit –
und oft auch dem Mitlesen der Texte, sei es im Booklet oder via
Transkriptionsfunktion am Handy. Musiker wie Aesop Rock oder Joanna Newsom
vertonen auf einem Album schon mal 40 bis 50 durchschnittliche Buchseiten.
Und
doch suchen Hörer diese herausragenden Alben nicht mehr in einem akribisch
sortierten, von Menschen kuratierten Angebot wie einem Plattenladen, sondern
auf digitalen Wühltischen namens Spotify, Apple Music, Amazon Music. Die
Auswahl dort präferiert immer den einzelnen Song, im Zweifel einsortiert in einer algorithmisch durchmischten Endlosplaylist. Die alte Werkidee Album ist bereits weitgehend verloren, jedenfalls aufseiten der Konsumenten, denen zum
Beispiel Spotify es geradezu verunmöglicht, wirklich mal nur ein Album
durchzuhören.
Nun war nicht alles besser, als Menschen noch CDs aus dem
Handschuhfach fummelten, Schallplatten umdrehen oder digitale Downloads auf
einen MP3-Player transferieren mussten. Doch die Entwicklung hin zum
Musikstreaming ist ein Bequemlichkeitstraum im Geschwindigkeitsrausch, der für
die Branche lebensgefährlich geworden ist. Denn während Streaming den Zugang zu
Musik radikal vereinfacht hat, hat es zugleich die ökonomischen Grundlagen für
viele Musiker ausgehöhlt – mit Centbruchteilen pro Stream, einem gnadenlosen
Verdrängungswettbewerb und der systematischen Bevorteilung massentauglicher
Inhalte durch algorithmische Logik.
Doch wenn ich heute mit Menschen in meinem Alter darüber
spreche, dass die Entwicklung hin zu per Flatrate vergütetem Musikstreaming
ein Fehler war (vgl. ZEIT 24/2025), ist die häufigste Reaktion: „Das kriegst du den
Leuten nicht mehr ausgetrieben. Die jungen Leute kennen das doch gar nicht mehr
anders.“ Als wäre dies nicht nur unausweichlich, sondern gar Fortschritt; als
wäre Musikstreaming wie ein Paar Handschellen, deren Schlüssel weggeworfen wurde:
einmal eingerastet, für immer gefangen.
Dabei gibt es viele Beispiele, bei denen
vermeintlicher Fortschritt rückabgewickelt wurde. Kostenfreier digitaler
Journalismus beispielsweise. Oder die Deregulierung der Finanzmärkte, die zum
großen Crash geführt hatte. Oder der ungebremste Zugriff von Big Tech auf
persönliche Daten – ermöglicht durch unsere Bereitschaft, kurzfristige Vorteile
wie Bequemlichkeit, Geschwindigkeit oder Gratisangebote über langfristige
Konsequenzen zu stellen. Dies sind alles Beispiele für Entwicklungen, bei denen
scheinbarer Fortschritt mit Verzicht auf Verantwortung erkauft wurde.
Doch: . Zurück ist das neue Vorwärts. Es
braucht eine Verknappung des Angebots. Es braucht weniger Musik.
Der Überfluss ist bequem
Wann sind die Leute überhaupt so bequem geworden?
Musikstreaming gehört heute zu jenen Systemen, bei denen die langfristigen
Kosten bekannt sind, der Verlust kultureller Vielfalt etwa, die Entwertung
kreativer Arbeit, die wachsende Abhängigkeit von monopolartigen Plattformen.
Und doch fällt es offenkundig schwer, aus dem Überfluss auszusteigen.
Ich glaube, es wird verkannt, wie sehr eine Reduktion des Angebots in Wahrheit
geschätzt würde. Der Erfolg preisgekrönter Exnovationskampagnen – zum Beispiel
des Newsletters – zeigt das Bedürfnis nach dem Besonderen,
dem Begehrenswerten, dem Raren. Dieser Wunsch wird oft reflexhaft als elitär
abgestempelt, nach dem Motto: Weniger Musik gleich weniger Zugang gleich Ausschluss für
viele. Aber das greift zu kurz.
Wer zwischen Millionen Songs wählen kann, dem fällt es
schwer, Tiefe und Bedeutung zu erleben. Was selten ist, bekommt Aufmerksamkeit;
was jederzeit verfügbar ist, verkommt zum Hintergrundrauschen. Das hat nichts
mit Elitismus zu tun, sondern mit menschlicher Wahrnehmung und Wertschätzung.
Tatsächlich war das Versprechen der Streamingdienste einmal,
die alten Türsteher – Plattenfirmen, Radios, Redaktionen – zu umgehen und allen
Künstlerinnen weltweiten Zugang zu Hörern zu ermöglichen und umgekehrt. Doch in der Praxis
haben die Streamingdienste neue, oft unsichtbare Gatekeeper etabliert:
Algorithmen als digitale Beliebigkeitskuratoren großer Playlists,
Empfehlungslogiken, die vor allem massentauglichen Content belohnen. Eine
bewusste Reduktion des Angebots hieße daher nicht, neue Hürden zu errichten, sondern
den Blick wieder stärker auf künstlerische Qualität, Kontext und kuratierte
Entdeckung zu lenken – und damit genau jenen Künstlern mehr Aufmerksamkeit zu
geben, die im digitalen Überfluss untergehen.
Eine gezielte Begrenzung des Angebots könnte Menschen
helfen, Musik bewusster zu konsumieren, unabhängig von ihrem Bildungsgrad oder Einkommen. Musik ist so wenig Statussymbol, wie Leitungswasser oder Strom es sind, sie ist eine kulturelle Ressource. Dem Satz „Ohne Musik könnte ich gar nicht mehr leben“ ist
der Kern abhandengekommen: der Inhalt der Musik, ohne die man angeblich nicht
mehr leben kann. Denn ohne irgendeine Musik kann man ganz wunderbar leben. Was
Menschen nicht missen wollen, ist das eine Album, das sie so berührt. Oder
vielleicht die 10, 20, 100 Alben, die im Leben berühren, weil deren
Inhalt und Erzählung mit dem eigenen Lebensinhalt verknüpft sind.