Ein Werk voller Welt

Wenn das etwas altmodische Wort „Grazie“ noch Bedeutung hat, dann vielleicht bei Ursula Krechel. So gewichtig und historisch aufgeladen vieles ist, was die 77-jährige Romanautorin und Lyrikerin schreibt, so wenig spürt man ihren Texten, für die sie jetzt mit der wichtigsten deutschen Literaturauszeichnung, dem Georg-Büchner-Preis, geehrt wird, diese Schwere an. Die Jury lobte, wie Krechel „den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetzt“. Ihr Werk durchziehe das Thema der „Selbstbehauptung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung weiblicher Autorschaft“. Und vielleicht ist es gerade dieser weibliche Blick, der ihr poetisches Besteck so scharf und zugleich so elegant macht.

Es sind Gewaltgeschichten, die Krechel von jeher beschäftigen, von der Antike bis in die Gegenwart. In ihrem erst in diesem Frühjahr erschienenen Roman verknüpft sie die Schicksale einer schwer kranken Lateinlehrerin, einer arbeitslosen Einzelhandelskauffrau und einer namenlosen Justizministerin, die einem Attentat zum Opfer fällt. Im Hintergrund läuft die Geschichte Agrippinas mit, der Mutter Neros, die einst so mächtig wurde, dass ihr eigener Sohn sie ermorden ließ. Für Krechel sind das Parallelbiografien, Spuren eines Musters, das sich durch die Jahrhunderte zieht. Und dann ist da natürlich , ihr großer Durchbruch: 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, später vom ZDF verfilmt. Der Roman erzählt von dem jüdischen Richter Richard Kornitzer, der nach dem Exil in Kuba ins Nachkriegsdeutschland zurückkehrt, in ein Land, das sich seiner Schuld partout nicht stellen will.

Die Möglichkeit, dass der Zorn jederzeit hervorbricht

Ihre eigentliche Paradedisziplin aber ist – seit sie in den Siebzigerjahren mit Lyrik debütierte – das Gedicht geblieben. Eine intensive, dichte, hoch konzentrierte Lyrik: „So kalt war das Herz, daß es / fürchtete um sich selbst / absoff die Rede, wollte schon / kaltschnäuzig genannt werden / schmiegte sich wohlig an Fliesen / hauste wie glückliche Maden / unter Körben mit Sauerkirschen“, heißt es im Gedicht Rede, Herz aus dem 1997 erschienenen Band – auch so ein typisch graziles Krechel-Wort: nicht mehr Zorn, aber doch die Möglichkeit, dass er jederzeit wieder hervorbrechen und alles mit sich reißen könnte. 

Was immer Ursula Krechel schreibt – Essays, Theaterstücke, Hörspiele – ist voller Welt. Mit der gegenwärtig so beliebten autofiktionalen Literatur kann sie wenig anfangen. Bei einem Übersetzertreffen in diesem Frühjahr in Berlin sagte sie, man merke es Autorinnen und Autoren schnell an, wenn ihnen nach dem ersten, zweiten Buch die Themen ausgingen, auf einmal Flaute. Ihr hat es nie an Stoff gefehlt. Und sie hat immer nach der richtigen Form gesucht – streng, ja, aber sie wusste: Nur durch Strenge entsteht jene Leichtigkeit, der man ihre Mühe nicht mehr ansieht. Nicht einmal wenn man dafür den wichtigsten Preis erhält.

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