DIE ZEIT: Herr Nusseibeh, Israel führt gerade nicht nur in Gaza Krieg, sondern hat im Juni auch den Iran angegriffen. Wie hängt das zusammen, und wie haben die Angriffe die Lage der Palästinenser verändert?
Sari Nusseibeh: Das ist schwer zu sagen. Die Palästinenser hoffen ganz allgemein auf ein Ende des Krieges. Aber während alle auf den Iran geschaut haben, sind zur gleichen Zeit in Gaza sieben israelische Soldaten bei einem Sprengstoffanschlag getötet worden. Auch das erinnert alle daran, dass hier das eigentliche und ungelöste Problem liegt. Es war und ist das palästinensische Problem, das die ganze Region in Aufruhr versetzte und das letztlich auch zum Konflikt mit dem Iran führte.
ZEIT: Die USA stehen in diesem Konflikt aufseiten Israels …
Nusseibeh: … und die meisten europäischen Regierungen auch, so sehen es zumindest die Palästinenser. Sie sehen aber auch, dass die Sympathie auf den europäischen Straßen der palästinensischen Sache gilt. Nur spiegelt sich diese Sympathie nicht in den politischen Entscheidungen der jeweiligen Regierungen wider.
ZEIT: Tatsächlich finden seit anderthalb Jahren immer wieder große propalästinensische Demonstrationen in europäischen Städten statt, zum Teil mit stark antisemitischen Anteilen. Wie erklären Sie sich dieses Auseinanderklaffen symbolischer Unterstützung und politischer Unterstützung für die Palästinenser?
Nusseibeh: Das erkläre ich mir mit der simplen Tatsache, dass selbst in Demokratien Regierungen nicht immer und sofort die Einstellungen und Wünsche der Bevölkerung widerspiegeln. Wir kennen das aus der Vergangenheit: Es hat zum Beispiel lange gedauert, bis die USA endlich ihren Krieg in Vietnam beendet haben, obwohl sich das im eigenen Land und international viele schon früher gewünscht hatten. So wird es jetzt vermutlich auch im Fall der europäischen Länder laufen.
ZEIT: Was ist mit den arabischen Ländern?
Nusseibeh: In den meisten arabischen Ländern werden die Regierungen gerade nicht getragen vom Willen der Bevölkerung, die sie regieren. Sie können sich nur deshalb an der Macht halten, weil sie von außen unterstützt werden, sei es politisch oder finanziell. Weil andere ein Interesse daran haben, dass sie bleiben. Ägypten, Jordanien, Marokko: Es ist kein Wunder, dass hier das, was sich das Volk wünscht, und das, was die Regierungen tun, nicht zusammenpassen. In anderen Ländern in unserer Nachbarschaft wiederum, In Syrien oder Libyen beispielsweise, sind die staatlichen Institutionen selbst zerrüttet und im Chaos. Ich vermute, dass es das Ziel Israels ist, mit den Angriffen auch im Iran ein ähnliches Chaos anzurichten.
ZEIT: Die Eskalation mit dem Iran hat zeitweise die Lage in Gaza aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verdrängt.
Nusseibeh: Wegen des Schocks des 7. Oktober war die allgemeine Unterstützung für das, was die israelische Regierung dort tat, lange sehr groß. Dabei richtete sich die Aufmerksamkeit gerade nicht auf die Details dessen, was das Militär in Gaza tat. Es herrschte eher das Gefühl vor, dass die Bedrohung von dort unten, aus Gaza, nun endlich überwunden werden muss. Aber in den vergangenen Monaten wurden allmählich einige Stimmen in der israelischen Gesellschaft laut, die auf die extremen Maßnahmen der israelischen Armee und die unlogischen Ziele, mit denen die israelische Führung diese Maßnahmen in Gaza begründet, aufmerksam machten. Dann kamen die Angriffe auf den Iran und haben alles überdeckt. Das Muster wiederholte sich: Wegen der akuten Bedrohung durch den Iran war die allgemeine Unterstützung für die Regierung wieder sehr hoch. Aber ich glaube, dass auch das nicht ewig so weitergehen wird. Wenn der Waffenstillstand hält und die Verhandlungen über das Atomprogramm beginnen, dann wird die israelische Gesellschaft sich zu reformieren beginnen. Die vielen Menschen, die die rechtsextreme Politik der Regierung nicht unterstützen und die ihr eine Art feindliche Übernahme der israelischen Demokratie vorwerfen – sie werden lauter werden. Und ich denke, dass dies schließlich zu einem Regierungswechsel führen wird.
ZEIT: Wirklich? Vor Kurzem haben Sie noch gesagt, dass Sie nicht mehr an den guten Willen der israelischen Gesellschaft glauben.
Nusseibeh: Das gilt für die jetzige Situation. Aber Gesellschaften verändern sich ständig, wie alle Organismen, und ich glaube daran, dass Israel wieder zu Sinnen kommen wird. Sehen Sie, in Israel hat sich eine Art jüdischer Extremismus breitgemacht und ist dominant geworden.
ZEIT: Sie meinen das Ziel eines idealen, religiösen Staats, dem auch Teile des israelischen Kabinetts anhängen. Ein rein jüdisches Groß-Israel, in dem allein das Wort Gottes gilt und in dem kein Platz für Andersgläubige und Palästinenser wäre.
Nusseibeh: Das ist ein Messianismus, der sehr gefährlich ist und den wir auch aus anderen Religionen kennen. Und ich glaube, dass dieser Extremismus letztlich überwunden werden wird, weil man so nicht mit anderen zusammenleben kann. Wenn uns Palästinensern früher, als ich jung war, vorgeworfen wurde, dass wir antijüdisch seien, haben wir gesagt: Nein, das Judentum ist in Ordnung, es gehört zu den semitischen Religionen wie der Islam, wir akzeptieren das Judentum. Wir sind nicht antijüdisch, wir sind antizionistisch. In den letzten Monaten bin ich zu der Ansicht gelangt, dass man es heute andersrum betrachten müsste.