Kinder haben keine Stimme. Zumindest keine, die sie bei Wahlen in diesem Land abgeben könnten. Sie können nicht mitentscheiden, wie sie lernen, leben und eines Tages in einem unterfinanzierten Altenheim sterben werden. Und selbst die ADAC-Mitgliedschaft als deutsche Version eines Schwitzhütten-Initiationsritus ist ihnen ohne Erlaubnis der Eltern versagt. Gleichzeitig sind Kinder ja, wie man so schön sagt, die Hoffnung. Sie sollen die Drohnenkriege der Zukunft gewinnen, das Rentensystem stabil halten, den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern. Sie müssen die Klimakatastrophe aufhalten oder zumindest aushalten, auch weil wir es nicht tun. Maximale Erwartungen fallen für Kinder also zusammen mit minimalen Einflussmöglichkeiten. Das kann nicht aufgehen. Und es wird noch verrückter.
Mitte der Fünfzigerjahre verglich der US-Soziologe Talcott Parsons die Familie noch mit einer Fabrik, die die „menschlichen Persönlichkeiten“ produziert, die Wirtschaft und Gesellschaft zum Selbsterhalt benötigen. Seit Anfang der Siebziger aber sterben jedes Jahr mehr Menschen in Deutschland, als geboren werden. 2020 lebte nur noch in jedem fünften Haushalt ein Kind unter 18 Jahren, Tendenz fallend. Welche Folgen das hat, beschreiben die Soziologen Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier in ihrem Buch . Die alternde Gesellschaft, heißt es da, „ist weder kindgerecht noch gerecht zu Kindern“. Würden alle Eltern von Minderjährigen in Deutschland einen Verband gründen, hätte der Millionen Mitglieder weniger als der ADAC, dessen Mitgliederzahlen steigen. 40 Prozent der Wähler der letzten Bundestagswahl waren 60 Jahre oder älter.
Was es heißt, dass Kinder keine sogenannte Lobby haben, kann man schon jetzt besichtigen. Marode Schulen, ausgebrannte Lehrer, steigende Kinderarmut, mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Was will die neue Regierung dagegen unternehmen?
Parteien dienen laut Definition dem Gemeinwohl, also auch dem Kindeswohl. Genau genommen ist das Wohl des Kindes sogar bei „allen Maßnahmen, die Kinder betreffen (…), vorrangig zu berücksichtigen“. So steht es in der UN-Kinderrechtskonvention, einem völkerrechtlich bindenden Vertrag, den Deutschland 1992 unterzeichnet hat. Doch von dieser vorrangigen Berücksichtigung findet sich kaum etwas im politischen Alltag, etwa im Koalitionsvertrag (PDF) der schwarz-roten Bundesregierung. Lediglich einmal wird dort das Kindeswohl benannt, um eine politische Absicht zu begründen. Und da geht es (gute Idee!), um die Erschwerung des Sorge- und Umgangsrechts für häusliche Gewalttäter. Ansonsten spielt das Kindeswohl entweder keine Rolle. Oder geben sich SPD und Union nur keine Mühe zu erklären, wie sie sich davon beeinflussen lassen?
Schauen wir deshalb ergänzend ins Grundsatzprogramm (PDF) der größten Regierungspartei: der CDU. Hier, endlich, ein flammendes Bekenntnis: „Denn für uns steht das Kindeswohl im Mittelpunkt.“ Das stimmt sogar halbwegs (die Formulierung findet sich auf Seite 43 von 80). Das war’s. Und auch dort, wo es vermeintlich zentral ist, wirkt es im Kontext peripher: Auf Seite 43 geht es um vieles gleichzeitig, um Leistungsbereitschaft, Förderschulen, Inklusion und besonders um das Ganztagsangebot für Grundschulen, das ausgebaut und gerechter werden soll. Davon profitieren jedoch weniger Kinder als Doppelverdiener-Eltern – und die CDU als Garant des Status quo. Denn um den zu erhalten, braucht es frei nach Friedrich Merz („Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“) möglichst viele Vollzeiteinzahler in die Sozialsysteme und keine Teilzeitmütter und -väter, die den Nachwuchs glücklich machen, indem sie mit ihm nachmittags ins Freibad gehen.
Die Ministerin hängt noch beim Gendersternchen
Und ein nicht minder bekenntnisfähiger Begriff fehlt gleich ganz, und zwar bei der CDU ebenso wie im aktuellen Koalitionsvertrag: Die „Kinderrechte“ haben es hierzulande besonders schwer. Dabei ist die Sache klar: Kinderrechte gehören ins Grundgesetz, das sieht die UN-Kinderrechtskonvention verbindlich vor. Ihr voran ging ein langes intellektuelles Ringen. Der 1942 im KZ Treblinka ermordete Reformpädagoge Janusz Korczak leistete dabei die Pionierarbeit. Bereits 1919 entwarf Korczak in seiner Schrift ein eigenes „Grundgesetz“ für Kinder. Er war überzeugt: „Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind es bereits.“ Das internationale Recht habe das jedoch nicht begriffen. Für Deutschland gilt das im Jahr 2025 noch immer.
Die Kinderrechtskonvention der UN hat zwar den Charakter eines Bundesgesetzes, spielt in der praktischen Anwendung jedoch kaum eine Rolle. Und auch im Grundgesetz (GG) kommen Kinder nur am Rande vor. Zwar sind sie mitgemeint, wenn es um die unantastbare Würde des Menschen oder das Recht eines jeden auf freie Persönlichkeitsentfaltung geht, doch anders als etwa Frauen und Männer (sie sind nach Artikel 3, Absatz 2 gleichberechtigt), die deutsche Mutter (sie verdient nach Artikel 6, Absatz 4 Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft) und natürlich die hiesigen Religionsgemeinschaften (dürfen Reliunterricht geben laut Artikel 7, Absatz 3), werden Kinder im Grundgesetz nicht als eigenständige Subjekte, sondern nur als Anhängsel der Eltern erwähnt. Ihre „Pflege und Erziehung“ sind das „natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Allerdings klingt das, als hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Formulierung von Artikel 6, Absatz 2 mehr an einen deutschen Dackel als an einen Fünfjährigen gedacht, der seine Eltern mindestens so sehr erzieht wie die ihn.
Mehrfach und zuletzt 2022 hat der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes den Vertragspartner Deutschland ermahnt, Kinderrechte endlich im Grundgesetz zu verankern. Vergeblich. 2021 gelobte die Ampel zwar die Grundgesetzänderung in ihrem Koalitionsvertrag, löste sich dann aber in Nichts auf, bevor es an die Umsetzung ging. Und die aktuelle Bundesregierung? Will sich in Person von Familienministerin Karin Prien (CDU) auf Nachfrage der ZEIT nicht zum Thema äußern. Stattdessen empörte sich Prien jüngst über die schulische Verwendung von Binnen-I und Gendersternchen. Auch Handys sollen weg aus der Grundschule. Alles offenbar wichtiger als Kinderrechte in der Verfassung, zumindest für die Ministerin.