„Die Anzeichen bleiben unbemerkt, weil wir sie mit Liebe verwechseln“

DIE ZEIT: Ihre Schwester Liliana Rivera Garza
ist die Protagonistin Ihres Romans. Als sie 1990 ermordet wurde, sprach man
noch nicht von „Femiziden“.

Cristina Rivera
Garza:
Liliana war 20 Jahre
alt und stand kurz vor dem Abschluss ihres Architekturstudiums, als sie am 16.
Juli 1990 ermordet wurde. Der mutmaßliche Täter, gegen den ein Haftbefehl
vorliegt, ist ihr Ex-Freund Ángel González Ramos. Etwa sechs Jahre lang waren
die beiden ein Paar. Im Verlauf der Beziehung wurde Ángel immer manipulativer,
eifersüchtiger und kontrollsüchtiger. Er drohte Liliana mit Suizid, sollte
sie ihn verlassen, griff sie verbal und schließlich auch körperlich an. Laut
den Aussagen der Nachbarn tauchte Lilianas Ex-Freund in den frühen
Morgenstunden uneingeladen in ihrer Wohnung auf und erstickte sie mit einem
Kissen. 

ZEIT: Wie wurde der Fall aufgenommen?

Rivera Garza: Ein Richter erließ einen
Haftbefehl, doch Ángel war geflohen. Bis heute ist er nicht verhaftet worden. Ich
habe bei den Behörden beantragt, den Mord rückwirkend als Femizid
einzustufen. Seit 2012 definiert das mexikanische Strafgesetzbuch Femizide als
Verbrechen an Frauen aufgrund ihres Geschlechts

ZEIT: 30 Jahre nach dem Tod Ihrer Schwester haben Sie beschlossen, einen Roman zu schreiben. Warum haben Sie so lange gewartet?

Rivera Garza: Ich hatte bereits vorher mehrere Versuche unternommen. Die Manuskripte habe ich noch, aber
das waren völlige Fehlschläge. Ich glaube, dass ich 30 Jahre gebraucht habe, weil ich wegen meiner persönlichen Trauer noch nicht so weit war. Außerdem ist es ein gesellschaftlicher Prozess der
letzten Jahre, eine Sprache jenseits patriarchaler Narrative zu entwickeln. Noch vor
wenigen Jahren bezeichneten viele Menschen Frauenmorde als „Verbrechen aus
Leidenschaft“. Solche Konzepte geben indirekt den Opfern die Schuld an der
Gewalt, die ihnen angetan wird, indem sie hinterfragen, welche Kleidung die Frau trug oder was sie getan hat, um
den Täter zu provozieren. Die enge Verknüpfung der Sprache patriarchaler
Gewalt mit der Sprache der romantischen Liebe führt dazu, dass sie normalisiert
und unsichtbar gemacht wird. Eine Sprache zu entwickeln, um
geschlechtsspezifische Gewalt als das zu benennen, was sie ist, ist eine der
wichtigsten Errungenschaften der feministischen Bewegungen in den vergangenen
Jahren.

ZEIT: Sollte man Femizide als ein Extrem
patriarchaler Herrschaft begreifen – oder als singuläre Taten?

Rivera Garza: Gewalt gegen Frauen ist eine stille
Epidemie. Sie bringt Frauen zum Schweigen. Erste Anzeichen bleiben oft
unbemerkt, weil wir sie mit romantischer Liebe verwechseln: Eifersucht,
Kontrolle, Manipulation. Diese psychische Gewalt kann zu körperlicher Gewalt
führen, zum Beispiel zu Schlägen und Strangulation, und schließlich zum Femizid.
Überall auf der Welt werden Frauen aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Das
Patriarchat kennt keine Grenzen, es ist ein globales System. Teil davon sind
auch unbezahlte Haus- und Care-Arbeit, ungleicher Zugang der Frauen zu Bildung
und zur Erwerbsarbeit. Diese Strukturen gibt es in Mexiko, aber auch in
Deutschland
.

ZEIT: Ihr Roman basiert auf zahlreichen Notizen,
Briefen und Tagebüchern von Liliana und ihren Freunden.

Rivera Garza: Ich habe nicht über Liliana geschrieben,
sondern mit ihr – dank ihrer Notizen. Ohne diese und zahlreiche Dokumente hätte
ich den Roman nicht vollenden können. Das war der große Unterschied zu meinen
früheren Versuchen, das Buch zu schreiben. Mir war es sehr wichtig, mit ihren
Freunden und unseren Eltern zu sprechen, zu forschen und eine Archivrecherche
zu betreiben, um eine kaleidoskopische Sicht auf Liliana zu erhalten und ihr Leben in den Mittelpunkt zu stellen. Liliana war humorvoll, hilfsbereit und intelligent. Sie war meine
jüngere Schwester, uns trennten fünf Jahre. Wir waren immer zusammen schwimmen,
das war unsere gemeinsame Leidenschaft. Wenn über Gewaltsituationen
geschrieben wird, liegt der Fokus oft so stark auf der Gewalt, dass die Person, der Gewalt angetan wird, und ihr Leben vergessen werden. Für mich war es sehr wichtig, in diesem Buch über
beides zu sprechen.

ZEIT: Was haben Sie bei Ihrer Recherche empfunden?

Rivera Garza: Es hat mich sehr bewegt, die Kisten zu
öffnen, die 30 Jahre lang niemand angerührt hatte und in denen Liliana ihre Notizen
aufbewahrte. Viele davon hatte sie in Origamiformen gefaltet. Ich hatte das Gefühl, dass diese Figuren aus den Kisten heraussprangen und
mich suchten. Ich spürte auf einmal Lilianas Präsenz. Weil ich wollte, dass sie die Protagonistin dieses Buches, aber dabei nicht allein ist, nahm ich den
Platz neben ihr ein und rief sie herbei. Ich wollte, dass die Leser und
Leserinnen des Buches dieselbe Erfahrung machen wie ich: dass sie die
unmittelbare Nähe von Liliana spüren.

ZEIT: In Ihrem Roman begleitet man Liliana an die Universität, zu Feiern mit Freunden, leidet mit
ihr an Liebeskummer.

Rivera Garza: Mir ging es weniger um die Handlung, also darum, wer es getan hat, sondern darum, wie
wir als Umfeld von diesem Ereignis betroffen sind. Wir als Familie haben viele
Jahre eine einsame Trauer erlebt, weil wir keine Worte fanden, um über Lilianas
Tod zu sprechen. Ein Freund von Liliana hat eine Typografie auf der
Grundlage von Lilianas Handschrift entworfen. Ihre Briefe und Notizen sind im
Buch also mit ihrer eigenen Handschrift geschrieben.

ZEIT: Sie schreiben, dass die Trauer das „Ende der
Einsamkeit“ ist, weil Sie die Welt mit den Sinnen Ihrer Schwester erfahren. Wie
drückt sich das in Ihrem Roman aus?

Rivera Garza: Seit mir meine Schwester genommen
wurde, besteht ein nicht abreißender Gesprächsfaden zwischen uns. Sie ist zu
einem unterirdischen Fluss in meinem Leben geworden. Oft wird über
Trauer als Verlust gesprochen. Ich bin jedoch an einer anderen Art der Trauer
interessiert: Trauer bedeutet für mich, ein aktives Gespräch mit dem verstorbenen Menschen zu führen und ihn dadurch zurückzuholen. Manchmal sagen die
Leute: „Komm darüber hinweg, beende die Trauer, mach weiter mit deinem Leben.“ Solche
Aussagen machen mich verrückt. Wer würde schon ein solches Gespräch beenden
wollen? Wer würde eine Person loslassen wollen, die Gutes in dein Leben bringt?

ZEIT: Ihr Buch erscheint nun in Deutschland, wo
Gewalt gegen Frauen zunimmt, aber Femizide bis heute nicht – wie etwa in Mexiko
– als eigenständiger Strafbestand erfasst werden
. Was kann Deutschland im Kampf
gegen Gewalt an Frauen von Mexiko lernen?

Rivera Garza: Ich war sehr überrascht, als das Buch auf
Englisch erschienen ist. Die Diskussion über Femizide ist in der
englischsprachigen Welt viel weniger präsent als in der spanischsprachigen,
insbesondere in Lateinamerika. Und das nicht, weil es dort weniger Gewalt gäbe,
die Zahlen sind überall auf der Welt schrecklich. Gewalt gegen Frauen ist ein
globales Phänomen
. Ich habe in den vergangenen anderthalb Jahren in Berlin
gelebt, und natürlich gibt es hier Feministinnen und Aktivistinnen, die darüber
sprechen. Aber das Thema steht nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte,
so wie es eigentlich sein sollte. Ich hoffe, dass Liliana dieses Gespräch
anregen kann und Aufmerksamkeit dafür schafft, dass Gewalt gegen Frauen nicht
nur in fernen Ländern, sondern überall auf der Welt existiert.

Mehr lesen
by Author
Wofür man den griechischen Göttern ja dankbar sein muss: Welchen Horror das…