Sie würde es wieder so machen

Angela Merkel wirkte in ihrer aktiven Zeit wie eine Hüterin. Mit schweren Lidern und hängenden Mundwinkeln hielt sie Wache, beschützte unseren Schlaf und überstand siegreich die schlimmsten Brüsseler Verhandlungsnächte. Aus europäischen Konferenzen trat sie manchmal vor die Presse wie ein von allen Seiten bedrängter Mensch, der auf eine Lichtung kommt, die er gleich wieder verlassen muss, weil er in der umgebenden Dunkelheit etwas zu Ende zu bringen hat, in das er uns nicht einweihen kann. Und auf jenem berühmten Bild, das sie mit Donald Trump zeigt, ist sie es, die vor ihm steht – und er blickt ein wenig benommen zu ihr auf.

Hier war die Frau, die Verantwortung trug und all jene, für die sie sie trug, vor den bizarren, gemeinen Wahrheiten ihres Handelns verschonen wollte. Das hat sich inzwischen geändert. Die Tatsache des dauerhaften Ruhestandes hat sich nun doch in ihre Rede geschlichen. Wenn sie heute spricht, klingt es nicht mehr, als wolle sie, wie früher, sagen: Sie kennen mich. Ich weiß, was ich tue. Sie wissen, dass es das Richtige ist. Sondern es klingt eher, als wolle sie sagen: Ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte nicht anders.

Als sie jetzt, am 26. Juni, in Berlin für das WDR-Format in einem syrischen Restaurant mit sieben Geflüchteten zusammensaß, noch immer in der roten Kanzlerinnenjacke, und bei orientalischen Knabbereien über ihre Einwanderungspolitik sprach, da hatte ihre Rhetorik nicht mehr jene Undurchdringlichkeit und kalkulierte, sonnige Einfalt früherer Herrschaftstage. Fast unbehaglich, leicht verhangen, bisweilen bang und auf der Hut wirkt sie nun, zu Beginn der Sendung. Sie muss ihre Flüchtlingspolitik gegen die herrschende Stimmung im Land verteidigen – und auch vor den einst Geflüchteten, nun in Deutschland heimisch Gewordenen, mit denen sie hier sitzt.

„Es ist nicht immer ganz einfach, wenn man von der menschlichen Komponente schaut, Bundeskanzlerin zu sein, weil man auch harte Entscheidungen oft treffen muss“, sagt sie einmal. 

Als sie gefragt wird, ob es ihre Politik gewesen sei, die die AfD stark gemacht hat, meint sie etwas kryptisch, sie habe in ihrem Beruf abwägen müssen zwischen den Sorgen derer, die der AfD zuneigten – und all den anderen. Eine reine Frage der Balance. In ihren Worten: „Ich kann nicht immer nur über die AfD sprechen und deren Tagesordnung aufnehmen, sondern ich muss auch die Tagesordnung aufnehmen von all denen, die sagen, ja wir müssen die illegale Immigration reduzieren, aber wir müssen doch auch unsere Werte weiter vertreten.“

Zurück ins Jahr 2015? Lieber 2013

Das ist, durch mildernde Filter gepresst, eine recht klare Kritik an der Politik der Regierung Merz. Skrupulös, gewissermaßen aus dem Kleingedruckten entrollt sich da eine moralische Richtschnur: Man muss unumstößlichen Werten folgen.

Als sie gefragt wird, was sie denn täte, wenn man sie ins Jahr 2015 zurückversetzen würde, Stichwort „Wir schaffen das“, sagt sie, sie würde es wieder so machen, wie sie es gemacht hat. Eigentlich aber, sagt sie dann, würde sie lieber gleich ins Jahr 2013 zurückreisen, um dort schon für andere Bedingungen zu sorgen, die Fluchtursachen zu beseitigen, mehr für die Unterstützung von Flüchtlingslagern im Libanon zu tun.

Als sie vom Moderator Bamdad Esmaili gefragt wird, wieso eigentlich so viele Menschen nach Deutschland gelassen wurden, „ohne sie vernünftig unterbringen zu können“, sagt sie, man könne ja nicht erst die Wohnungen abzählen und den Menschen an der Grenze dann sagen, jetzt könne niemand mehr rein.

Als Akram al-Homsy, der als 15-Jähriger aus Syrien floh, berichtet, dass er und seine Eltern durchs Hilfsprogramm der Vereinten Nationen nach Europa und schließlich nach Deutschland (Wuppertal) gekommen seien, sagt Merkel: „Das ist ja überhaupt der Weg, der eigentlich der bessere ist.“ Also besser als die Flucht über die Balkanroute. Und weiter: „Dann kommt das UN-Flüchtlingswerk und sucht die aus, die jetzt wirklich sehr bedürftig sind.“

Das allerdings klingt nun sehr lieblich und geradezu kinderbuchhaft, aber Merkels Gesprächspartner am Tisch – manche von ihnen wären, hätten sie es so gemacht, wie Merkel es hier empfiehlt, gar nicht in Deutschland – nicken höflich.

Zur aktuellen Flüchtlingspolitik der Regierung sagt Merkel, sich deutlich abgrenzend, man müsse „das Ganze europäisch sehen“. In ihren Worten: „Wenn jemand hier an der deutschen Grenze sagt ‚Asyl‘, muss er erst mal ein Verfahren bekommen, meinetwegen direkt an der Grenze, aber erst mal ein Verfahren – so habe ich das europäische Recht verstanden.“ Also: keine Zurückweisungen. 

Das Weitere bleibt vage. „Insgesamt müssen wir natürlich gucken, dass nicht die Schlepper und Schleuser bestimmen, wer kommt“, sagt Merkel, „sondern dass unsere gemeinsamen Überzeugungen … und wo brauchen wir auch Fachkräfte.“ Das sind zwei Halbsätze zu Sachverhalten, die eigentlich keine Halbsätze dulden, unvollendet, durch die Zuhörerschaft zu ergänzen. Jedoch ahnt man in beiden Fällen, was sie meint – und dass die Sache dilemmatisch ist.

Angela Merkel sucht nicht nach Pointen, sie gerät nie ins Schwärmen, was sie sagt, hat nichts Triumphales und verrät auch nie Genugtuung. Sie klingt also ziemlich anders als Friedrich Merz, der (wenn er nicht gerade neben Donald Trump im Oval Office sitzt) doch recht oft so wirkt, als gingen ihm die Pferde durch, ja als genösse er solche kleinen rhetorischen Stampeden geradezu.

In der Sendung fällt von ihr ein einziger Satz, der als Selbstlob gewertet werden kann: „Ich hab in den 16 Jahren, wo ich Bundeskanzlerin war, viel getan für die Integration.“ Sie sagt das nur, um anzufügen, dass die Menschen mit Integrationsgeschichte das Wort Integration irgendwann gar nicht mehr hören wollten. „Sie wollten einfach Teil Gesellschaft sein.“

„Was bist ‚du‘ für ein Mensch?“

Gegen Ende der Sendung huscht immer öfter ein Lächeln über ihr Gesicht. Ja, die etwas schablonenhafte Formulierung, ein Lächeln „husche“ über das Gesicht eines Menschen, trifft ihre Mimik genau. Sie erzählt am Tisch des Restaurants Malakeh eine Anekdote, die in aller Bescheidenheit sehr für sie spricht. Bei einem Zusammentreffen mit migrantischen Schülern habe sie in Stuttgart an einem Spiel teilgenommen, bei dem jeder auf einem Stück Papier drei Begriffe notieren sollte, die für ihn Heimat bedeuten. Alle anderen hätten Menschen genannt, Eltern, Geschwister, Freunde. Aber sie habe geschrieben: „See, Kirche, Wald“. In Erinnerung an die Szene sagt sie lachend, wie im Spott über sich selbst: „Was bist für ein Mensch?“

Und dann fragt sie in die Runde der Angekommenen: „Sind wir manchmal furchtbar still und eingeschränkt – und würden Sie manchmal lieber ungezwungen feiern und länger plaudern?“ Ihr eigenes Volk betreffend zieht sie den Schluss: „Wir sind schwierig für Menschen, die zu uns kommen und eine offenere Kultur haben.“

Das ganze Gespräch wirkt, als würde es aus einer anderen Zeit gesendet: Während Friedrich Merz von Flüchtenden gern wie von einer lästigen Masse, wenn nicht sogar Plage spricht („Das, was im Monat abgeschoben wird, ist in drei Tagen schon wieder da“, sagte er kürzlich), ist hier eine Politikerin, die es sich leistet, Geflüchtete persönlich zu nehmen – als Einzelfälle. Und die sich mit ihnen sehen lässt. Das ist keine Kleinigkeit. Es ist eine Geste, die sich in der aktuellen Stimmungslage, zehn Jahre nach dem sogenannten Flüchtlingssommer 2015, für einen deutschen Politiker als gefährlich und rufschädigend erweisen könnte.

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