Im Februar 1990 titelte der „Wieso kommen die noch? In Westdeutschland kocht Haß auf die DDR-Übersiedler hoch.“ Es war ein Jahr, in dem sich der Zorn auf zugezogene Ostdeutsche entlud. Sie wurden auf der Straße beschimpft, Notunterkünfte angegriffen, Kinder in Schulen angefeindet, Zeitungen überschlugen sich mit Schreckensmeldungen. Die große Angst: Diejenigen, die nun Woche für Woche zu Tausenden die offenen Grenzen passieren, würden das westdeutsche Sozialsystem sprengen und den Wohnungs- und Arbeitsmarkt zum Kollabieren bringen. Der Zustrom, so der Tenor, müsse eingedämmt werden.
1990 war auch das Jahr, in dem Kathleen Reinhardt und ihre Eltern von Thüringen nach Bayern zogen. Reinhardt kam in die dritte Klasse einer Ingolstädter Schule. Ihre Klassenkameraden sagten, daran erinnert sie sich noch genau: „Ihr kommt und nehmt uns die Arbeitsplätze weg. Ihr wisst nicht, wie man richtig arbeitet.“
Es war ein krasser Wechsel, der sie und ihre Arbeit als Kuratorin bis heute prägt. Denn wer so etwas erlebt hat, wird im besten Fall sensibel für Ausschlüsse, für Schieflagen, für das, was nicht miterzählt wird. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass Kathleen Reinhardt vor wenigen Wochen zur Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der Kunstbiennale 2026 in Venedig berufen wurde.
Kathleen Reinhardt, geboren in Sonderhausen, leitet das Georg Kolbe Museum in Berlin. Dass sie nun Deutschlands Beitrag zu einer der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt kuratiert, ist eine aufregende Nachricht, so kann man das wohl sagen. Aufregend auch gleich die Wahl der beiden Künstlerinnen, die ihre Arbeiten präsentieren werden im kommenden Jahr: Henrike Naumann und Sung Tieu. Beide haben ebenfalls eine ostdeutsche Geschichte.
Auf den ersten Blick scheint Reinhardt, das erzählt ihre bisherige Karriere, gut darin zu sein, neues Gebiet zu betreten, dorthin zu gehen, wo es unbequem ist. In einer polarisierten Welt, in der sicher geglaubte Gesellschaftssysteme plötzlich ins Wanken geraten, ist das vielleicht nicht die schlechteste Eigenschaft. Was hat sie vor als Ausstellungsmacherin? Und ist sie tatsächlich die Richtige, um diesen monströsen Ort zu bespielen – den 1938 von den Nazis umgebauten, seither umstrittenen Deutschen Pavillon in Venedig?
Ich treffe Kathleen Reinhardt im Georg Kolbe Museum. Seit 2022 ist sie die Direktorin in dem Haus, das einst Wohn- und Arbeitsstätte des gleichnamigen deutschen Bildhauers war. Die Straße dorthin ist grün, lang gezogen, gesäumt von Villen. Typisch westdeutsch. Eine dieser Gegenden in der Hauptstadt, in denen sich seit 1989 gefühlt nichts verändert hat. Wobei, es hat sich schon einiges getan: Früher war das Museum nostalgisch verschlafen, ein Ausflugsziel für Sonntage ohne Plan. Heute pilgert die Kunstszene her – wegen des progressiven Programms. Und wegen Reinhardt, die das Haus zwischen Moderne und Gegenwart navigiert.
Es ist zehn Uhr morgens, im Garten des Museums stehen Skulpturen nackter Frauen, drinnen wartet Reinhardt in Plisseehose und Brokatbluse. Reinhardt will, statt über sich selbst zu reden, durch die aktuelle Jubiläumsausstellung führen. Das Museum wird dieses Jahr 75, und Reinhardt nutzt das zum Aufräumen.
Kolbe, einer der bekanntesten Künstler seiner Zeit, hat in den Dreißiger- und Vierzigerjahren für das Regime gearbeitet, Aufträge angenommen, den Markt bedient. War kein glühender Nazi, aber auch kein Widerständler. Hat sich rausgehalten – und doch mitgespielt.
Reinhardt will diese Ambivalenz zeigen. Ohne moralischen Zeigefinger, aber auch ohne Verklärung. Skulpturen mit Mullbinden, das Zusammengeflickte, das Abgeblätterte – die Ausstellung mit Werken von Kolbe, historischen Dokumenten und internationalen zeitgenössischen Positionen setzt auf Brüche statt Glanz. Im Erdgeschoss liegen vergammelte Orangen des spanischen Künstlers Álvaro Urbano neben den Bronzen nackter Kolbe-Frauen. An der Wand hängen bissige Schwarz-Weiß-Bilder des ostdeutschen Fotografen Christian Borchert, der 1987 den Auftrag bekam, Arbeiten des Bildhauers im öffentlichen Raum zu dokumentieren. Im Untergeschoss erzählen zwei Wände, recherchiert von der türkischen Künstlerin Hande Sever, was Kolbe eigentlich während seines Kriegsdiensts im Ersten Weltkrieg in Istanbul tat und was das mit dem Genozid an den Armeniern zu tun hat. „Die meisten Leute wollen am Wochenende einfach einen schönen Ausflug machen und Kunst sehen“, sagt Reinhardt. „Aber das heißt ja nicht, dass wir nicht auch erzählen können, was wirklich war.“