Als Bahai gerät man ins Kreuzfeuer

Israelische Bomben auf Schiras, die Geburtsstadt meines Vaters. Iranische Raketen über Haifa, für uns ein heiliger Ort. Ich schreibe an eine Freundin: Wo können wir jetzt noch bleiben? Das Recht zu bleiben, das Recht zu sein. Für Minderheiten wie die der Bahai wird der Krieg zwischen dem Iran und Israel zu ebendieser Frage.

Weil das Bahaitum im damaligen Persien als Nachfolgereligion zum Islam entstand, das religiöse Zentrum jedoch im heutigen Israel liegt, gelten die Bahai als Häretiker und Spione Israels. Die Geschichte der größten nicht anerkannten religiösen Minderheit im Iran steht im Zeichen von Diskriminierung und Hinrichtungen. Die Menschenrechtsorganisation stuft die Verfolgung der Bahai inzwischen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Sie begann nicht erst mit der Islamischen Republik, doch hier wird sie systematisch betrieben, als Teil der Staatsdoktrin. Vor zwei Wochen wurde die Bahai Roya Sabet zu 25 Jahren Haft verurteilt – wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit und der Zusammenarbeit mit Israel.

Heute regnen auf die Bahai israelische Bomben, während das iranische Regime gleichzeitig versucht, sie dafür verantwortlich zu machen. Am Montag wurde verkündet, dass Menschen, die angeblich mit Israel zusammenarbeiten, nach Kriegsrecht verurteilt werden sollen. Die Bahai stehen im Kreuzfeuer dieses Konflikts.

Aber ich will nicht über das menschenverachtende Regime sprechen, auch nicht über die kriegsdurstige Regierung Netanjahus. Sondern über die Menschen im Iran, die in den vergangenen drei Jahren zusammenstanden, ob sie einer Minderheit angehörten oder nicht. 2022 löste die Ermordung der Kurdin Jina Amini die größte Protestbewegung der letzten 40 Jahre aus. Unter dem von der kurdischen Freiheitsbewegung abgeleiteten Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ stellte sie die Frage der Minderheiten rigoros in den Mittelpunkt.

Die Bewegung gab der ethnischen, religiösen und geschlechtlichen Diversität der Bevölkerung Raum und schaffte gleichzeitig Verbundenheit. Die Menschen verstanden: Alle leiden unter Willkür und Repressalien eines ideologischen Regimes, manche jedoch besonders, je nachdem, wie weit sie von der Norm des ethnisch persischen, schiitischen Mannes abweichen. 

Seit 2022 verzeichnen Menschenrechtsorganisationen jedes Jahr mehr Hinrichtungen politischer Gefangener. Das Regime exekutiert Männer, die sich den Protesten der Frauen angeschlossen haben. Trotzdem – und das kann einen nur dankbar und ehrfürchtig zurücklassen – hielten die Männer und ihre Familien weiter zu der Bewegung. Männer sterben für die Befreiung der Frauen, weil sie die Befreiung aller darstellt. Ein Stempel der Solidarität im kollektiven Gedächtnis.

Israelische Bomben auf Schiras, iranische Raketen über Haifa: Seit vergangenem Freitag herrscht im Iran eine neue Realität. Die erste Freude über die Tötung führender Generäle der gewalttätigen Revolutionsgarde ist inzwischen einer Angst vor dem Krieg gewichen. Gleichzeitig ist die Frage, was Waffenruhe und ein „Frieden“ für jene bedeuten würden, die weiter inhaftiert und verfolgt werden. Unter dem Beschuss durch Israel wird für Minderheiten wie die Bahai ihre eigene Diskriminierung zur Falle. Es könnte so scheinen, als würden sie von einem Sturz des iranischen Regimes profitieren. Als Netanjahu in einer Videobotschaft davon sprach, dass das iranische Volk sich nun gegen das Regime erheben solle, bezog er sich sogar auf den Slogan „Frau, Leben, Freiheit“, während unter den israelischen Angriffen Dutzende iranische Zivilisten starben. Die Solidarität der Protestbewegung wird unter dem Krieg zwischen Israel und dem Iran extrem strapaziert.

Dabei ist jetzt der Moment, im Geiste der Bewegung von 2022 zu denken, ausgehend von Minderheiten, die wissen, dass Unterdrückung und Aggression verschiedenste Gestalten annehmen können. Es ist der Moment, daran zu erinnern, was Proteste tief in der iranischen Gesellschaft und der Diaspora verankert haben.

Ich sehe die israelischen Bomben auf Schiras und ich denke an die zehn Bahai-Frauen, die dort 1983 öffentlich erhängt wurden. Die jüngste war 17, als sie in Haft kam. Sie hatte in einem Schulaufsatz gefragt, warum ihr nicht die gleichen Rechte zustanden wie einem Mann oder wie Muslimen. Als sich ihr Todestag zum 40. Mal jährte, gedachten Menschen im Iran und auf der ganzen Welt dieser Frauen. Songs wurden in ihrem Namen produziert, Bilder für sie gemalt. Obwohl sie nie von ihren Familien begraben werden durften: Das Regime konnte das Gedenken an sie nicht verschütten. 

Ich schreibe, und aus dem Augenwinkel sehe ich auf einem Video, wie die israelischen Bomben auf Täbris fallen, eine Stadt im Norden des Irans. Eine massive Explosion, auf die eine Rauchwolke folgt. Vor fast genau 175 Jahren drückten in Täbris 750 Soldaten gleichzeitig ab. Ihr Ziel: Seyyed Ali Muhammad, genannt der Bab. Eine öffentliche Exekution. 

Der Bab, Sohn eines Kaufmanns, hatte eine Bewegung zur Erneuerung des Islam begründet, ohne Geistlichkeit, mit dem Anspruch auf die Mündigkeit der Einzelnen und die Gleichstellung der Frau. Die Bahai verehren den Bab als einen der Väter ihrer Religion. Mit seiner Exekution begann ihre Vertreibung. Tausende, die seiner Bewegung folgen wollten, wurden verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Der neue Anführer der Bewegung, Bahá’u’lláh, wurde 1852 von fundamentalistisch islamischen Geistlichen aus Persien verbannt – er lebte in Bagdad und Edirne, später im damaligen Palästina, lange vor der Staatsgründung Israels. Daraus entsprang die Propaganda einer Israel-Nähe der Bahai.

Die Überreste des Bab sind im heutigen Israel beigesetzt, geborgen vom Schrein auf dem Berg Karmel. Wenn ich die iranischen Raketen über Haifa beobachte, ist seine goldene Kuppel kaum zu übersehen.

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