Hardcore in Himmelblau

Die Farbe des Popsommers 2025 ist
himmelblau. Glaubt zumindest Charli XCX, die mit dem Giftgrün ihres
letztjährigen Albums die Farbe des Popsommers 2024 vorgegeben
hatte. Während ihres Auftritts beim kalifornischen Coachella-Festival im
vergangenen April erklärte die Musikerin den für beendet und
kündigte auch gleich an, wie es weitergehen würde: mit dem .

Zwei Monate später kann man hören,
dass Charli XCX wieder einmal ihrer Zeit voraus war. heißt
das neue, vierte Album von Turnstile, und es dürfte die Hardcore-Punk-Band aus
Baltimore im US-Bundesstaat Maryland auf ein neues Level heben. Bereits die vorab veröffentlichten Songs und
Videos zeigten, was neben Charli XCX auch schon einige Insider wussten: Diese
Musiker sind etwas Besonderes. Nach unstillbarem Hunger klingen ihre Songs, so
wütend, melancholisch und gleichzeitig lebensbejahend, dass alle Widersprüche
der Gegenwart darin zusammenlaufen.

Seit 2010 machen Turnstile gemeinsam Musik, ihre Mitglieder waren schon vorher umtriebig in der Hardcore-Szene von
Baltimore. Über diese Kreise hinaus wirkt die Band um den Sänger Brendan Yates
seit der Veröffentlichung ihres vierten Albums im Jahr 2021.
Erstmals nahmen auch Punk-ferne Medien im größeren Stil Notiz von Turnstile.
Die Band wurde für drei Grammys nominiert, ging auf Tour mit Blink-182 und durfte sogar ihre eigenen
Converse-Schube designen. Nicht nur Charli XCX bekennt sich inzwischen zu
Turnstile, sondern auch andere eigensinnige Popstars wie Demi Lovato oder James Hetfield, der Sänger
von Metallica.

Mit dem verträumten Titelstück von  knüpfen Turnstile zunächst einmal sehr direkt bei an. Diesmal klingt ihre Version von Hardcore aber noch atmosphärischer, noch ätherischer – selbst die Gitarrenexplosionen des Songs erinnern  an Kissenschlachten. Der Sänger Yates beschreibt dazu eine ruhelose Person, die vergeblich versucht, vor sich selbst wegzulaufen. Turnstile nehmen sich damit mehr Zeit und geben der Musik mehr Raum als bisher. Ihr Blick schweift hörbar (und im zugehörigen Video auch sichtbar) in die Ferne. „Für Leute, die vielleicht nur kurz in das Album reinhören wollen, ist das Outro des Songs wahrscheinlich unerträglich lang“, sagte Yates kürzlich in einem Interview mit dem Musikmagazin . „Uns war aber wichtig, so lange wie möglich bei diesem Moment zu verweilen.“

Outros sind hörbar wichtig für
Turnstile. Das siebenminütige mündet in elektronischen Beats, die
die Band mit einem Zitat aus der Fernsehserie , der ultimativen
Ehrerbietung und Beerdigung ihrer Heimatstadt Baltimore, verbindet. Immer
wieder stellt sich auf die Frage, was hier noch Hardcore
ist und was schon Pop, was neu und was Zitat. Die Gitarren erinnern viel
weniger an eigentlich genretypische Lautstärken und Härtegrade als an The Smiths (deren Albumcovers in Turnstiles
Szenekreisen seit jeher ein beliebtes T-Shirtmotiv sind). Das vergleichsweise
gerade gesägte Hardcore-Brett verweist mit seinem Titel
ausgerechnet auf eine britische Shoegaze-Band.

Man kann darüber rätseln, wie das
nun alles zusammenpasst, man kann sich aber auch einfach im Sound von verlieren. Der ist zwar nicht ganz so neu und radikal, wie er in
Teilen der Musikpresse gerade dargestellt wird – die Band Deafheaven etwa war mit ihren Verschmelzungen
von sehr harter und sehr weicher Musik schon einige Jahre früher dran. Wie
schlüssig und scheinbar mühelos Turnstile die verschiedenen Welten
zusammenführt, ist dennoch beeindruckend. Weil in den USA in Kürze auch noch
ein Kinofilm über die Band anläuft, dürfte der zumindest
für das Heimatland der Musiker beschlossen sein.

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