Betreff: Die wütende junge Frau

Götz Hamann: Liebe Ann-Kristin, mich lässt die Debatte um Jette Nietzard nicht los, egal ob sie demnächst zurücktritt oder nicht. Ich finde sie als politische Figur spannend und denke darüber nach, welche Rolle sie in der Bundespolitik besetzt hat, nicht nur weil sie provoziert, denn das hat sie, also mich
jedenfalls, aber da ist meiner Ansicht nach noch mehr: Sie ist dauernd wütend.
Ihre größten Auftritte hat sie als wütende junge Frau. Ich weiß gar nicht, wann wir zuletzt so jemanden auf der
bundespolitischen Bühne hatten?

Ann-Kristin Tlusty: Lieber Götz, spontan fällt mir als erstes Beate Klarsfeld ein, die in den späten Sechzigerjahren sehr wütend auf die Nazivergangenheit
des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger aufmerksam gemacht hat
. Und dann gab es
natürlich die Grüne Petra Kelly, die RAF-Frauen Gudrun Ensslin und Ulrike
Meinhof
– aber das ist alles schon ziemlich lang her.

Hamann: Willst du zwei Linksterroristinnen wie Meinhof und Ensslin wirklich in eine Reihe
mit jungen, wütenden Politikerinnen stellen? Bei Gewalt in der politischen
Auseinandersetzung ist einfach eine Grenze überschritten.

Tlusty: Das sehe ich wie du, aber du hattest nach politischen Figuren gefragt – und
für ihre Generation und den Zeitgeist der Siebzigerjahre waren Meinhof und Ensslin,
beide jung und wütend, doch schon sehr prägende Gestalten, denkst du nicht? In
der Gegenwart muss ich an Heidi Reichinnek von den Linken denken. Die ist
ja auch erst durch ihre Wutrede auf Merz im Januar so richtig berühmt geworden.

Hamann: Ich tue mich ein bisschen schwer damit, Heidi Reichinnek als junge Frau zu
bezeichnen, sie ist 37 Jahre alt. Wirklich jung ist sie nur im Vergleich zu
Bundeskanzler Friedrich Merz. Aber wenn wir sie dazuzählen, und dann natürlich auch Petra Kelly,
sprechen wir in jedem Fall über eine seltene politische Erscheinung.
Angesichts der kleinen Zahl lassen sich aber auch die Unterschiede
gut erkennen. Petra Kelly war eine Friedensaktivistin und leidenschaftliche
Umweltpolitikerin. Sie hat sich den großen Fragen der Zeit gewidmet, die grüne
Partei mitgegründet, sich darüber aufgerieben. Beate Klarsfeld als Nazijägerin
(minus Ohrfeige) finde ich auch sehr überzeugend. Dagegen ist Nietzard zuletzt
mit einem schlecht gealterten und schon immer pubertären Spruch auf ihrem
Sweatshirt aufgefallen: (oder wie die hiesigen
Autonomen so schön übersetzen: „Alle Bullen sind Schweine“. 

Tlusty: Es ist wirklich auffällig, wie wenig Beispiele es gibt
für wütende, junge Frauen auf der politischen Bühne der Bundesrepublik. Was ich
aus feministischer Perspektive aber schlüssig finde: Offen zur Schau getragene
Wut wird bei Frauen, bei jungen erst recht, oft als Hysterie ausgelegt. Das ist
wahrscheinlich eine der ersten Lektionen weiblicher Sozialisation: dass es
opportun ist, die eigene Wut nur dosiert zu zeigen. Vielleicht ändert sich
diese Bewertung in der Politik gerade, das Beispiel Reichinnek wäre ein Beleg
dafür. Oder auch wenn wir den Blick etwas weiten, die Karriere von Alexandria
Ocasio-Cortez im US-Kongress
, die oft sehr wütend auftritt.

Hamann: Das sehe ich auch so. Und nur um den Namen in diesem
Zusammenhang einmal zu erwähnen: Die AfD-Chefin Alice Weidel hat Wut zu ihrem
Markenzeichen gemacht, als Maske und rhetorisches Machtinstrument in der
politischen Debatte und vor allem bei Fernsehauftritten. In diesem Sinne hat
sie den Spielraum für alle Frauen vielleicht sogar erweitert, obwohl ihr das
garantiert schnurzegal ist. Zugleich ist Wut an den extremen Rändern auch nicht
so überraschend, sie bekommt durch Weidel nur mehr Sendezeit als je zuvor.

Tlusty: Ich denke, dass weibliche Wut weitaus weniger
sanktioniert wird, wenn sie sich nicht gegen patriarchale Strukturen wendet,
sondern sich ganz im Gegenteil in ihren Dienst stellt. Insofern fällt es mir schwer, Weidels Wut als feministische Errungenschaft zu werten.

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