Deutschland, vereint im Streit

An diesem Sonntag werden sich Tausende Menschen zu einem Gespräch treffen, die sich wahrscheinlich nie begegnet wären. Ein Lkw-Fahrer, der die AfD wählt, trifft auf einen Berater, der sich wegen Donald Trump sorgt. Ein Finanzanalyst aus Frankfurt begegnet einer Sozialarbeiterin aus Leipzig. Und ein Rentner, der sich Sorgen macht wegen der Aufrüstung, spricht mit einem Soldaten. Sie alle werden ein politisches Vieraugengespräch führen, über Migration, den Krieg in der Ukraine, die Medien im Land oder den Stand der Wiedervereinigung von Ost und West. Und sie werden versuchen herauszufinden, ob es noch etwas gibt, das sie verbindet.

Das ist die Idee von einer Art Datingplattform für politischen Diskurs, die ZEIT ONLINE seit nunmehr sieben Jahren organisiert. In diesem Jahr haben sich mehr als 5.000 Menschen registriert, mehr als 2.500 Paare treffen sich in diesen Stunden zum Gespräch. Die Gespräche fallen zwischen die drei Landtagswahlen in Ostdeutschland und in eine Zeit, in der sich der politische Diskurs verhärtet hat und Teile der Gesellschaft kaum noch miteinander im Gespräch sind.

Aufgerufen zu der Aktion haben in diesem Jahr neben ZEIT ONLINE neun andere Medienhäuser. Die  die  das das Radioeins des RBB, das  die die  die  und das Sie alle haben in den vergangenen Wochen ihren Leserinnen und Lesern sieben Ja-Nein-Fragen gestellt. Etwa: Hat Deutschland zu viele Geflüchtete aufgenommen? Oder: Sollte Deutschland die Ukraine stärker militärisch unterstützen? Anschließend hat ein Algorithmus jene Teilnehmende zusammengebracht, die in möglichst vielen dieser Fragen uneins sind.

Ein Blick auf die Antworten in diesem Jahr bestätigt eine Vermutung, die man durch die Debatten der jüngsten Monate gewinnen konnte: Viele politische Fragen werden heute kontroverser diskutiert als noch vor Jahren. Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden findet zum Beispiel, Deutschland habe zu viele Geflüchtete aufgenommen. Als ZEIT ONLINE diese Frage 2017 stellte, waren es lediglich 19 Prozent. Immerhin rund 40 Prozent der Befragten antworten in diesem Jahr, die Meinungsfreiheit in Deutschland sei in Gefahr. Ebenso polarisierend ist die Frage nach den autofreien Innenstädten und den gleichen Chancen für Ost- und Westdeutsche. 

Erhebliche Unterschiede gibt es zwischen den Teilnehmenden in Ost- und Westdeutschland. In Westdeutschland befürworten rund 73 Prozent der Diskutanten eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine, in Ostdeutschland sind es lediglich 60 Prozent. Das Ergebnis deckt sich mit bundesweiten Umfragen, die nahelegen, dass Ostdeutsche der derzeitigen Ukrainepolitik der Bundesregierung deutlich skeptischer gegenüberstehen. Auch in der Einschätzung darüber, ob Ost- und Westdeutsche die gleichen Chancen haben, gehen die Meinungen zwischen Ost und West auseinander. Deutlich mehr Ostdeutsche beantworteten die Frage mit Nein. 

Auffällig ist auch ein Stadt-Land-Gefälle: Während in der Stadt rund 49 Prozent finden, Deutschland habe zu viele Geflüchtete aufgenommen, sind es außerhalb der Städte 59 Prozent – zehn Prozentpunkte mehr. Großstädter befürworten auch in größerem Maße autofreie Innenstädte und ein stärkeres militärisches Engagement in der Ukraine. Während 72 Prozent von ihnen die Medien für vertrauenswürdig halten, liegt der Anteil außerhalb der Städte nur bei 60 Prozent.

Auch zwischen den Geschlechtern gibt es ein Gefälle. Wesentlich mehr Männer als Frauen sind für die Einführung der Wehrpflicht, 61 Prozent gegenüber 46 Prozent. Fast genauso groß ist die Differenz bei der Frage nach der Migration: Nur 40 Prozent der Frauen finden, Deutschland habe zu viele Geflüchtete aufgenommen, bei den Männern sind es 55 Prozent. Auch in der Frage, ob die Städte autofrei sein sollen, antworten prozentual deutlich mehr Frauen mit Ja.  

Ost und West, Stadt und Land: Diese verschiedenen Perspektiven treffen heute bei tausendfach zusammen. Es ist rein rechnerisch das kontroverseste das es bisher gegeben hat: Im Durchschnitt sind die Diskutanten in mehr als fünf Fragen unterschiedlicher Meinung. Es wird also gestritten werden. Und doch wird jedes Treffen auch eine Chance sein, der Frage näherzukommen, warum das Land derzeit politisch auseinanderdriftet. Und was es noch zusammenhält. 

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