Ein Schützenfest irgendwo in Niedersachsen oder in Brandenburg oder im Saarland. Die leeren Fanta-Korn-Gläser werden längst nicht mehr abgeräumt, alle sind betrunken. Und der sogenannte Dorfnazi steht im Zelt und macht torkelnd ein Handzeichen, das ziemlich klar ein Hitlergruß ist. Die daneben schütteln den Kopf – wie peinlich von ihm. Vielleicht ruft jemand die Polizei, vielleicht auch nicht. Es war ja nur der Dorfnazi. Niemand hat Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Am Ende endet das noch in einer Schlägerei! So oder so ähnlich geschieht das irgendwo in Deutschland jeden Sommer.
Im Mai 2024 aber gab es die Champagner-Variante dieses Vorgangs, und danach lief alles anders. Ein Videoausschnitt landete im Internet: Auf der Terrasse der Pony Bar in Kampen auf Sylt tanzten junge Menschen in hellen Hemden mit Schulterpullis, eine Szene wie aus Christian Krachts Roman . Zur Melodie von Gigi D’Agostinos brüllten manche „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Einer machte eine rhythmische Handbewegung, wie Hitlergrüße im Takt der Musik, mit zwei Fingern deutete er ein Hitlerbärtchen. Millionen sahen die Aufnahme. Der damalige Bundeskanzler nannte das Verhalten „ekelig“, die Innenministerin eine „Schande für Deutschland“. Der Staatsschutz ermittelte, es gab Anzeigen. Wer mitgemacht hatte, verlor seinen Job. Ein Jahr später: Verfahren eingestellt, nur im Fall des „winkenden Grußes“ ein Strafbefehl, 2.500 Euro Bußgeld.
Zeit, sich die Debatte um das „Sylt-Video“ noch mal genauer anzuschauen: Für viele war der eigentliche Skandal nicht, dass man auf deutschen Volksfesten (und ja, dazu zählen auch Pfingstpartys auf Sylt) selbstsicher rassistische Parolen brüllen kann. Sondern, dass auch privilegierte, gebildete Menschen das machen: „Champagner, Rolex und Rassismus“ , „Schickeria Schock auf Sylt“ , „Champagner, Party, und offener Rassismus“ .
Wochenlang, auch in der ZEIT, drehten sich die Debatten um die „Kinder reicher Eltern„. Man befragte sich selbst und andere ungläubig nach dem. Wobei das hinreichend bekannt ist: 8,3 Prozent der Deutschen haben ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild, 20,1 Prozent stimmen diesem Weltbild nicht klar zu, lehnen es aber auch nicht gänzlich ab, das ging aus der Mitte-Studie 2023 hervor. Und da gehören Menschen, die Pfingsten gern auf Sylt feiern, natürlich dazu. Rassistische Parolen gibt es nicht nur in Ostdeutschland oder auf dem Schützenfest.
Aber es ist halt spannender, über die Ausfälle der Sylt-Schickeria zu schimpfen, statt sich mal selbst zu überlegen: Wie kann ich eigentlich dem besoffenen Dorfnazi oder der kleinen Schwester entgegentreten, wenn die rassistisch ausfällig werden? Elon Musk kann man schließlich nicht einfach ansprechen, wenn er mit rassistischen Handzeichen experimentiert – den Mitspieler auf der Mannschaftsparty des FC Tiefblau schon.
In der Exotisierung des Sylt-Videos, im falschen Skandal-Fokus, liegt daher ein schwereres Versäumnis: Die unzähligen Nachahmer waren den Lokalzeitungen zwar oft noch eine Meldung wert, aber die große Debatte kam nie wirklich von der Insel Sylt runter. Dabei wäre es wichtig gewesen, den Vorfall im Pony Club einzuordnen in eine lange Reihe von rassistischen Ausfällen. Anhand dieser Erkenntnis hätten wir dringend nötige Debatten führen müssen: Darüber, wie es denn sein kann, dass es überall im Land von vielen vermeintlichen Einzeltätern als in Ordnung empfunden wird, Hitlergrüße zu zeigen und „Ausländer raus“ zu singen – und was das über unsere Gesellschaft sagt:
Auf der Erlanger Bergkirchweih sollen zwei Menschen zu „Ausländer raus“ gerufen haben. Auf dem Schützenfest in Löningen bei Cloppenburg. Auf dem Partyumzug auf dem Hamburger Schlagermove. Beim traditionellen Leißlinger Eierbetteln in Weißenfels. Auf einem renommierten Internat in Schleswig-Holstein. Wohl auch in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete im thüringischen Suhl sollen zwei Security-Mitarbeiter „Ausländer raus“ gerufen haben.
Im März 2025 grölten Schüler auf einer Party in einem Berliner Tennisclub zu „Ausländer raus, Ausländer raus“ und auch „Deutschland den Deutschen“. Der DJ sagte der , er habe sich nichts dabei gedacht, den Song zu spielen. Er habe gemeint, darüber sei „Gras gewachsen“.
Es ist Mai, bald gehen die Sommer- und Volksfeste wieder los. Bestimmt wird es auch auf diesen Festen wieder besoffen gereckte Arme geben, über die man nur den Kopf schütteln kann. Vielleicht gibt es sogar wieder einen schillernden Eklat, wie den auf Sylt. Doch nur wenn man sich bemüht, all diese Einzelfälle und Einzelmeldungen nebeneinanderzulegen, wie auf einen Zeitstrahl, dann wird es ziemlich schnell und gut sichtbar werden: Wir haben überall in Deutschland ein Problem mit Naziparolen. Vielleicht reden wir diesen Sommer auch genauso darüber.