Die ukrainischen Streitkräfte stehen zunehmend unter Druck. Im
Osten des Landes rücken russische Truppen weiter vor. Sie stehen kurz vor Pokrowsk,
einer Stadt mit strategischer Bedeutung. Zwar hat die Regierung in Kiew die
Einwohnerinnen und Einwohner aufgerufen, sich nach Westen in Sicherheit zu bringen, dennoch
sollen sich dort weiterhin 28.000 Zivilisten aufhalten. Die Frontlinie liegt nur noch zehn Kilometer von Pokrowsk entfernt, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Die
Gas- und Wasserversorgung der Stadt hat die russische Armee nach
ukrainischen Angaben unterbrochen.
Bedrohlich entwickelt sich die Lage für die ukrainische Armee zudem in
der russischen Region Kursk. Dorthin waren Anfang August überraschend ukrainische
Einheiten vorgedrungen. Sie hatten rasch ein Gebiet von gut 1.300
Quadratkilometern und fast 100 Orte eingenommen, darunter die Kleinstadt
Sudscha. Doch nun hat am Dienstagabend die seit Längerem erwartete russische
Gegenoffensive begonnen. Das russische Verteidigungsministerium teilte am
Donnerstag mit, dass Einheiten der Nord-Truppe vorrücken. Sie hätten innerhalb
von zwei Tagen zehn Ortschaften zurückerobert.
Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident, hat die
russischen Gegenangriffe im Grenzgebiet bestätigt. Er zeigte sich aber
demonstrativ gelassen. „Alles läuft nach unserem ukrainischen Plan“, sagte er
auf einer Pressekonferenz in Kiew. Selenskyj warf den Verbündeten im Westen
vor, angesichts der angespannten militärischen Lage sein Land zu zögerlich zu
unterstützen. Er fordert den Westen zudem auf, mehr Waffen und Munition
bereitzustellen und den Einsatz weitreichender Raketen und Marschflugkörper
zu genehmigen. Während die russischen Truppen vorrücken, versuchen offenbar
ukrainische Einheiten, wieder an Boden zu gewinnen. Aktuell scheinbar ohne viel Erfolg.
Die Ukraine gerät bei Kursk in die Defensive
„Das Momentum der ukrainischen Offensive in Kursk ist zum
Erliegen gekommen. Wir sehen nun zunehmend mehr russische Gegenstöße und
-angriffe“, sagt Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheers, der
den Krieg in der Ukraine von Beginn an intensiv analysiert. „Die Russen
versuchen derzeit dabei, mit zwei Marineinfanteriebrigaden in einer
Zangenbewegung von Westen und Osten angreifend, die ukrainischen Kräfte
einzukesseln.“
Die Ukraine hat ihre kampfkräftigsten Einheiten für die
Offensive verwendet. Sie sollten eigentlich Russland zwingen, fronterfahrene
Verbände aus dem Donbass abzuziehen, um sie bei Kursk einzusetzen. Dieses Ziel
wurde nur sehr bedingt erreicht. Das Regime in Moskau hat den Angriff auf
Pokrowsk im Donbass unvermindert fortgesetzt und von dort kaum nennenswert Truppen abgezogen, um den ukrainischen Angriffen zu begegnen.
Stattdessen hat die russische Führung Einheiten von der Manövergruppe Server abgezogen, die nördlich von Charkiw eingesetzt wird. Die zweitgrößte
Stadt der Ukraine, im Nordosten gelegen, stand ebenfalls schwer unter russischem Druck.
Das hat sich nun geändert. „Dort sind die russischen Angriffe daher nahezu zum
Erliegen gekommen“, stellt Reisner fest. „Die Russen gehen bei Kursk und
Charkiw systematisch vor. Sie klären auf und bekämpfen erkannte Ziele mit
Artillerie und Gleitbomben.“ Ziel sei es, die Ukrainer zu zermürben und zum
Aufgeben zu zwingen.
Noch versuchen die ukrainischen Verbände, das eroberte Territorium
im Raum Kursk zu halten. „Die Ukrainer halten dagegen, beziehungsweise
versuchen günstige Verteidigungsstellungen zu gewinnen. Dazu müssen sie große
freie Flächen aufgeben und Waldstücke, Höhen oder Ortschaften in Besitz nehmen.
Diese eignen sich besser für einen hinhaltenden Kampf“, sagt Reisner. „Das
Problem ist die derzeitige russische Luftüberlegenheit sowie die elektronischen
Störmaßnahmen der Russen. Dies bereitet den Ukrainern zunehmend Schwierigkeiten.
Man versucht, beweglich und flink zu bleiben.“
Laut dem Telegram-Kanal Rybar, der dem russischen Militär
nahesteht, laufen die Kämpfe vor allem rund um Snagost, einen Ort, der im
Westen des von der Ukraine kontrollierten Gebiets liegt. Dort hatte die ukrainische
Armee mehrere Brücken zerstört, um weiteres Vorrücken der russischen Armee zu erschweren.
Mittlerweile haben die Russen aber offenbar mehrere Pontons errichtet, auf dem
ihre Einheiten den Fluss Sejm überqueren können.