Wer ist Mister Europa?

Fünf Männer auf einem plüschroten Sofa, auf dem Tisch vor ihnen liegt ein
Handy – das
Foto wurde am vergangenen Samstag in Kyjiw aufgenommen
und seitdem
millionenfach verbreitet. Es zeigt, von links nach rechts: Keir Starmer, den
britischen Premierminister, Ukraines Präsidenten Wolodymyr Selenskyj,
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, den polnischen Ministerpräsidenten
Donald Tusk und Friedrich Merz, den neuen Kanzler. Gemeinsam telefonieren sie
mit Donald Trump.

Das Gespräch sei spontan zustande gekommen, wurde berichtet. Frankreichs
Präsident habe die Idee gehabt, einfach mal in Washington durchzuklingeln.
Zugleich ist die Szene perfekt inszeniert. Macron kann so was, er hat die
Vorgeschichte sogar auf X gepostet.
In einem kurzen Video sieht man den Franzosen mit dem Handy am Ohr,
offensichtlich spricht er mit Trump: Ich rufe dich in zwei Minuten zurück – schon sitzen die fünf
auf dem Sofa.

Die Szene erinnert fast zwangsläufig an eine alte Anekdote. „Wen rufe ich
an, wenn ich mit Europa sprechen will?“, soll der frühere amerikanische
Außenminister Henry Kissinger einmal gefragt haben. In Kyjiw waren gleich fünf
europäische Staats- und Regierungschefs am Apparat.

Wer spricht für Europa? Die alte Frage hat sich dramatisch zugespitzt. Seit
Donald Trump und Wladimir Putin drohen, die Zukunft des alten Kontinents unter
sich auszumachen, führt Europa einen diplomatischen Reigen auf, der in immer
neuen Formationen um immer dieselben Fragen kreist: Wie können wir den Krieg in
der Ukraine beenden? Und was kommt danach?

Die EU-Institutionen spielen gerade eine nachgeordnete Rolle

Fast täglich gibt es ein neues Treffen. Am Samstag in Kyjiw, am Montag in
London, am Freitag in Rom. Mal beraten die Staats- und Regierungschefs, mal die
Außen-, die Europa- oder die Verteidigungsminister. Es gibt Gespräche zu dritt,
zu viert, zu fünft oder zu 27. Weimarer Dreieck, E 3, E 5 – die Zahl der
diplomatischen Formate scheint unerschöpflich. Wehe den Historikern, die dieses
Knäuel einmal entflechten!

Auffällig ist, dass die klassischen Institutionen der Europäischen Union
gerade nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Ursula von der Leyen und António Costa sind zwar bei vielen Treffen dabei. Aber die Kommissionspräsidentin und
der Präsident des Europäischen Rats stehen selten in der ersten Reihe, genauso
wenig wie die Außenbeauftragte der EU, Kaja Kallas. Schon gar nicht
telefonieren sie mit Trump. Das mag Europas Föderalisten schmerzen, doch für
die beschränkte Rolle der Institutionen gibt es gute Gründe.

Zunächst: Europa und die EU sind nicht identisch. Das klingt banal, wird
aber oft vergessen. Wenn nun über die politische Ordnung in Europa entschieden
wird, sind davon nicht nur die 27 EU-Staaten betroffen. Auch Großbritanniens
Sicherheit hängt wesentlich davon ab, wie der Krieg in der Ukraine endet. Dass
dort, in London, kein Brexiteer mehr regiert, sondern der
aufgeschlossene Keir Starmer, ist deshalb ein
großes Glück – für beide Seiten
. Auch andere Länder haben ein
existenzielles Interesse daran, Moskaus imperiale Ambitionen zu stoppen. In der
albanischen Hauptstadt Tirana trifft sich deshalb am Freitag die Europäische
Politische Gemeinschaft. Mehr als 40 Länder, noch ein Format.

Bei Sicherheit und Verteidigung kommt es auf die Mitgliedstaaten an

Etwas anderes kommt hinzu. Obwohl die Europäische Union auf den Trümmern
eines Weltkriegs errichtet wurde, zählen Krieg und Frieden bislang nicht zu
ihren Kernkompetenzen. Die Gemeinschaft verfügt weder über eigene Waffen noch
über eigene Soldaten. Die Treffen außerhalb des EU-Rahmens spiegelten diese
Sachlage wider, schreibt der Direktor des Brussels Institute for Geopolitics,
Luuk van Middelaar: „Wenn es um Sicherheit und Verteidigung geht, verfügt die
EU nur über begrenzte Handlungsmöglichkeiten“, die
Mitgliedstaaten trügen selbstverständlich die Hauptlast
. Anders gesagt,
nur der französische Präsident kann mit dem Einsatz französischer Soldaten
drohen. Und Friedrich Merz muss für Deutschland entscheiden, welche Waffen die
Bundeswehr der Ukraine liefert – und welche nicht.

Trump und Putin verkörpern jeder auf seine Weise die Vorstellung einer
einsamen, ganz auf ihre eigene Person zugeschnittenen Macht. Wer in Washington
oder Moskau etwas erreichen will, weiß, wen er anrufen muss. Europa hingegen
wird diese Frage nie abschließend beantworten können. Aber ein diplomatisches
Muster zeichnet sich ab. Denn Merz, Macron, Starmer und Tusk waren nicht
zufällig gemeinsam in Kyjiw. Frankreich und Großbritannien haben in den
vergangenen Wochen die Initiative ergriffen. Beide Länder sind Atommächte, sie
verfügen über einen selbstbewussten diplomatischen Apparat und eine gewachsene
sicherheitspolitische Kultur. Deutschland kommt dazu, denn ohne die „Macht in
der Mitte“ (Herfried Münkler) kann es keine Stabilität in Europa geben. Und
Polen ist als Brückenkopf zum Osten wichtiger denn je.

Eine Frage bleibt trotzdem offen. An diesem Donnerstag
will der ukrainische Präsident Selenskyj in Istanbul mit Wladimir Putin
sprechen. Ob ein solches Treffen tatsächlich zustande kommt, ist ungewiss. Aber
irgendwann werden die Kriegsparteien miteinander verhandeln müssen. Die
Europäer haben stets darauf gedrängt, dass sie dann „mit am Tisch sitzen
wollen“. Aber wer genau sitzt dann für Europa am Tisch? Wer verhandelt im Namen
der anderen über die Zukunft des Kontinents – Frankreichs Präsident, Deutschlands
Kanzler oder doch die Vertreter der Europäischen Union? Was auf dem roten Plüsch
so einfach aussah, dürfte bei möglichen Friedensverhandlungen deutlich
schwieriger werden.

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