Zwölf Jahre
nach meiner Flucht aus Syrien, die mich von meiner Familie und den Orten
getrennt hat, an denen ich zu dem wurde, der ich heute bin, öffnete sich mit
dem Sturz Assads im Dezember 2024 plötzlich ein Fenster. Ein Fenster, das sich
jederzeit wieder schließen konnte.
Ein Fenster, um
meine Mutter zu sehen. Um zurückzukehren an die Orte, die ich überstürzt
verlassen hatte. Zu den Dingen, die unter den Trümmern unserer zerstörten
Häuser begraben wurden. Ich wollte Zeuge dieser neuen Zeit werden, in Syrien,
wo uns über vierzehn Jahre lang jede Freude verwehrt wurde.
Vielleicht
hatte ich auch Angst, dass sich das Fenster schnell wieder schließt. Denn auf
das gefallene Regime, das uns ein Aufatmen erlaubte, könnte jederzeit ein neues
folgen, gegen das wir uns wieder stellen müssten.
Nach den Weihnachtsfeiertagen buchte ich also
ein Ticket nach Syrien, über den Libanon. Ich wollte nicht weiter grübeln, ob
sich diese Reise auf meinen Aufenthaltsstatus in Deutschland auswirken würde.
Meiner Mutter sagte ich, dass ich sie wegen fehlender Papiere nicht besuchen
könne. Ich wollte ihr keine Hoffnung machen, falls mir der Weg nach Damaskus
versperrt würde. Das lernen wohl alle Migranten und Geflüchteten über die
Jahre: Der Familie in der Heimat erzählt man nichts von den Problemen, den Sorgen,
den Schmerzen. Man ruft sie nur an, wenn es gute Nachrichten gibt.
Als ich mit einem Taxi die syrische Grenze
passierte, rief ich meine Mutter an: „Was machst du heute
zum Abendessen? Könntest du etwas mehr machen? Ich komme in einer halben Stunde
nach Hause.“ Sie hielt das für einen Witz.
Als
wir uns wiedersahen, waren mir meine Familie und ihr neues Haus genauso fremd
wie meiner deutschen Frau. Ich wollte meine Mutter nicht nach unseren Häusern
in Yalda und Tadamon fragen. Ebenso wenig nach unseren Verwandten. Ich wusste
ja, dass einige verschwunden sind. Ich wusste ja, dass unsere Häuser zerstört
wurden.
Nachdem
sie 2014 erst aus Tadamon, dann aus Yalda geflohen waren, zog meine Familie in ein
Viertel außerhalb von Damaskus. In Tadamon bin ich aufgewachsen. Dort standen
unsere Häuser und Geschäfte. Das meiste wurde zwischen 2012 und 2015 von den
Truppen des alten syrischen Regimes zerstört. Kurz vor Ende meines Besuchs
fragte mich meine Mutter, ob ich unser Zuhause besuchen wolle. Ich fragte mich, ob sie einen Weg suchte, damit wir als Familie
wieder dieselben Erinnerungen teilen.
Sie
bereitete Tee und Snacks vor, als würden wir einen Ausflug machen. Wir fuhren mit
meinem Vater, meiner Mutter, meiner Frau und meinem jüngeren Bruder los, den ich
2013 als Kind zurückgelassen hatte. Heute ist er größer als ich. Ich erinnerte
mich an meine letzten Jahre in Syrien, daran, wie mein Bruder unter Bomben und
Gewehrfeuer so sehr schrie, dass ich ihm Kopfhörer aufsetzte und laute Musik
abspielte, damit er die Schüsse nicht hören musste. Nicht einmal die, die unser
Haus trafen.
Kaum
fuhr das Auto los, hallten die Artilleriegeräusche in meinem Kopf wider,
begleitet von drei Sätzen, die mir aus dem Roman von Tahar Ben Jelloun nun ständig im Kopf umherschwirrten:
Die
Artilleriegeräusche verstummten, sobald mein Vater die fröhlichen Tanzlieder
aufdrehte, die nach dem Sturz des Regimes überall zu hören waren. Wir sangen.
Unser
Stadtteil Tadamon, was so viel wie Solidarität bedeutet, nahm seit den
Sechzigerjahren Geflüchtete auf, die aus den von Israel besetzten Gebieten
stammten. Weil das Viertel relativ günstig war, zogen verschiedenste
Bevölkerungsgruppen aus allen syrischen Provinzen hin, von Daraa im Süden bis
Idlib im Nordwesten des Landes. So wurde es eines der am dichtesten
besiedelten Gebiete von Damaskus. Palästinenser, Alawiten, Drusen, Ismaeliten,
Turkmenen, Kurden und Schiiten lebten dort nebeneinander. Tadamon war wie eine
Miniaturversion Syriens, mit all seinen ethnischen und konfessionellen Gruppen,
in all seinen Komplexitäten.
Mein
inzwischen verstorbener Großvater war einer von jenen, die aus Armut vor rund
einem halben Jahrhundert aus Daraa hergezogen waren. In Tadamon wurden mein
Vater, meine Onkel und Tanten geboren, ich auch. Diese Vielfalt habe ich später
nirgendwo sonst erlebt, obwohl ich viel umhergereist bin.