Es ist der 20. Juli 2024: In einem Container am Flughafen Leipzig explodiert ein Paket. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt. Die Löscharbeiten dauern Stunden. Das Paket sollte eigentlich längst in einer Maschine auf dem Weg nach London sein, nur durch eine Verspätung steckte es in dem Container fest – und explodierte nicht an Bord eines Flugzeugs.

Nur einen Tag später wiederholt sich der Vorfall in der Nähe von Warschau. In einem Vorort bricht ein Paketbrand auf dem Gelände eines Transportunternehmens aus. Verletzt wird niemand. Die Löscharbeiten dauern Stunden. Einen weiteren Tag später geht ein drittes Paket auf einem DHL-Gelände in der Nähe des Flughafens von Birmingham in Flammen auf. Auch hier kommt wie durch ein Wunder kein Mensch zu Schaden.

Europa ist knapp einer Katastrophe entkommen.

Sicherheitsbehörden verdächtigen russische Spione

Schnell vermuteten Sicherheitskreise damals russische Sabotage. Recherchen von WDR, NDR und „Süddeutscher Zeitung“ bestätigen diese Vermutungen jetzt und legen neue Informationen in einer ARD-Doku vor. Der russische Militärgeheimdienst GRU soll demnach hinter der internationalen Operation stecken. Mehrere ranghohe GRU-Angehörige sollen mit den Sabotageplänen in Verbindung stehen.

WDR, NDR und „Süddeutsche Zeitung“ konnten jetzt erstmals Fotos des Leipziger Brandsatzes veröffentlichen. Die Aufnahmen zeigen das Ausmaß des Brandes und wie gefährlich es gewesen wäre, wenn das Feuer im Frachtraum des Flugzeugs ausgebrochen wäre.

Der lange Arm des Kremls

Die Vorfälle sind offenbar nur die Spitze des Eisbergs: Die Sicherheitsbehörden verdächtigen Russland, für Dutzende Vorfälle verantwortlich zu sein. Der russische Geheimdienstarm, der bis nach Deutschland reicht, ist laut den Recherchen ein unübersichtliches Netz aus Agenten.

Über Mittelsmänner und Handlanger werden Informationen vom GRU immer weiter durchgegeben, meist über den Messenger-Dienst Telegram. Hier finden auch die Rekrutierungen statt. Experten sprechen von „Wegwerf-Agenten“ – Personen, die keine offiziellen Geheimdienst-Mitarbeiter sind und für den GRU die Drecksarbeit machen.

Sprengsätze mit Massagekissen und Sexspielzeug

Im Fall der Pakete funktionierte das Agentennetz so: Eine bis heute unbekannte Person packt im Sommer 2024 mehrere Pakete mit Massagekissen und Sexspielzeug. In jedem der Kissen versteckt sie einen Brandsatz, versehen mit einem Zeitzünder. Die Pakete werden über Handlanger im Auto quer durch Europa transportiert, über Warschau (Polen) nach Litauen. In Vilnius werden sie in einem Hotelzimmer scharf gestellt. Schließlich gelangen die Pakete über eine DHL-Annahmestelle an Bord verschiedener Flugzeuge.

Zehn Personen sollen insgesamt involviert gewesen sein. Die Ermittler haben bereits mehrere Beteiligte in Litauen, Polen, England, Bosnien-Herzegowina festgenommen. Viele sollen die genauen Hintergründe angeblich nicht einmal gekannt haben.

Doch welches Ziel verfolgt Putin mit solchen Aktionen in Deutschland? Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, der in der ARD-Doku zu Wort kommt, sieht in dem Verhalten eine Machtdemonstration. Außerdem gehe es um die Verunsicherung der Gesellschaft und der Politik, mit dem Ziel, die Unterstützung der Ukraine zu sabotieren.

Russland streitet alles ab

Die russische Botschaft in Berlin bestritt auf Anfrage der Journalisten, dass Moskau hinter den Vorfällen stecke und sprach von „Paranoia“ und „Verschwörungstheorien“. James Appathurai, der bei der Nato unter anderem für Strategien zur Abwehr hybrider Angriffe zuständig ist, fasst das Ausmaß der Vorfälle zusammen: „Ein Flugzeug kann Feuer fangen und alle an Bord töten. Es kann auf einen Wohnort fallen und die Menschen, die dort leben, töten. Und genau aus diesen Gründen halten wir das für eine Eskalation.“

Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums sagte am Mittwoch zu der Nachrichtenagentur AFP zu dem Vorfall in Leipzig nur, dass die Ermittlungen „intensiv weiter“ liefen. „Wir können definitiv konstatieren, dass in Deutschland die Gefahr durch Sabotage oder entsprechende Vorbereitungshandlungen auch durch russische Stellen seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stark gestiegen ist“, sagte die Sprecherin weiter.

Die Doku „Sabotage: Deutschland in Putins Visier“ läuft am Mittwoch, 23. April, um 22.50 Uhr in der ARD und ist ab sofort in der ARD-Mediathek verfügbar.