Der Koalitionsvertrag von Union und SPD steht – aber die Kritik an der Basis wird lauter. Heute Nacht startet der Mitgliederentscheid, bei dem 358.322 SPD-Mitglieder über den Vertrag abstimmen sollen.
Montagabend wirbt die Parteispitze in Hannover um Zustimmung. Und die erste von zunächst sechs geplanten Dialogkonferenzen (vier davon online) ist hochkarätig besetzt: Neben den SPD-Chefs Lars Klingbeil (47) und Saskia Esken (63) sowie Generalsekretär Matthias Miersch (56) nehmen Verteidigungsminister Boris Pistorius (65), Arbeitsminister Hubertus Heil (52) und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (50) teil.
600 Parteimitglieder wurden erwartet, um die Verhandlungsergebnisse zu diskutieren – aber etliche Plätze bleiben leer. Die Stimmung: durchwachsen. Vor allem die SPD-Nachwuchsorganisation Jusos lehnt die Vereinbarung ab.
„Ohne deutliche Nachbesserungen können wir diesem Koalitionsvertrag nicht zustimmen. Wir empfehlen den Mitgliedern, entsprechend zu votieren“, hatte Niedersachsens Juso-Co-Chef Jarno Behrens im Vorfeld angekündigt.
„Ich bin hin- und hergerissen“, sagt Rentner Hans-Jörg (70). Beim Thema Migration stecke zu wenig SPD im Koalitionsvertrag, und der Mindestlohn von 15 Euro sei nicht festgeschrieben. „Ansonsten sind manche Formulierungen sehr breit auslegbar.“
Dass viele Projekte unter „Finanzierungsvorbehalt“ stehen, hält Falk-Martin Drescher (34) hingegen für richtig. „Wir geben ein etwas realistischeres Bild ab und versprechen nichts, was illusorisch ist“, meint der Angestellte aus der Kommunikationsbranche. Mit den getroffenen Kompromissen könne die SPD „ganz zufrieden“ sein.
Hannovers Juso-Bezirksvorsitzende Lisa Jarmuth kritisiert die Abkehr vom 8-Stunden-Tag zur Wochenarbeitszeit. „Das muss dringend verändert werden“, sagte sie. Sonst könnten die Jusos nicht zustimmen. Ein anderer Genosse meinte: „Ich habe ein Riesenproblem damit, wie der Koalitionsvertrag kommuniziert wird.“
Rechtsanwalt Hans-Georg Tillmann (74) kommt der Klimaschutz zu kurz. „Wir müssen mehr in die Klimaforschung investieren, nicht in Krieg und Aufrüstung“, appelliert er an Verteidigungsminister Pistorius. Ein anderes Parteimitglied aus Salzgitter fordert den klaren Kampf gegen Clan-Kriminalität: „Da müssen wir Grenzen setzen.“
Ein Genosse will online wissen: „Was passiert, wenn der Mitgliederentscheid scheitert?“
Parteichef Klingbeil antwortet fast schon flehend: „Wenn es scheitert, dann wird es Neuwahlen geben – oder den Versuch, eine Minderheitsregierung zu bilden.“ Damit gebe es zwar Alternativen. „Aber keine dieser Alternativen ist gut für unser Land.“