Deutschland und Europa wollen aufrüsten und Russland so vor einem Angriff abschrecken. Aber reicht die Zeit?
Im Interview mit BILD-Vize Paul Ronzheimer warnt Rüstungsexpertin Susanne Wiegand, die russischen Streitkräfte zu unterschätzen. Bis Februar war Wiegand Chefin des Augsburger Unternehmens Renk (ca. 3300 Mitarbeiter). Die Firma ist Weltmarktführer bei Panzergetrieben, beliefert u.a. die Ukraine und Israel.
Wiegand sagt: Wir haben viel weniger Zeit als wir denken, um die Bundeswehr auf den Ernstfall vorzubereiten!
Fakt ist: Westlichen Nachrichtendiensten zufolge könnte Russland in vier bis fünf Jahren in der Lage sein, die Nato anzugreifen. Deshalb erhöhen viele Bündnisstaaten nun ihre Verteidigungsinvestitionen und rüsten auf.
„Kriegswirtschaft läuft in Russland auf Hochtouren“
Doch Expertin Wiegand mahnt: „Es geht mir nicht in den Kopf, warum Russland jetzt fünf Jahre warten soll, bis wir hier was getan haben.“ Sie glaubt: Im Falle eines Waffenstillstands in der Ukraine „wäre Russland wahrscheinlich in der Lage, signifikante Kräfte sofort an die Nato-Ostflanke zu verlegen“. Mehr als 100.000 Truppen plus Gerät.
Was würde aus russischer Sicht dafür sprechen?
„Der tägliche Verlust von Material wäre dann sofort gestoppt. Die Kriegswirtschaft läuft in Russland auf Hochtouren“, so die erfahrene Rüstungsmanagerin. Deshalb sei Russland „nicht erst in vier oder fünf Jahren“ in der Lage, den Westen zu testen.
Wiegand: „Ich würde Russland nicht unterschätzen, auch wenn deren Wirtschaftskraft nicht so groß ist wie das, was wir in der EU haben.“
Schneller Russland-Kollaps? – „Das wäre eine Fehlkalkulation“
Denn: „Erstens hat Russland Kampferfahrung gesammelt.“ Zweitens hätte Russland seine Nachschubwege bereits organisiert und Prozesse aufgesetzt. Drittens hat Moskau „einen Rückgriff auf Menschenmassen“ und die Skrupellosigkeit, seine Menschen im Krieg sterben zu lassen. Viertens habe der Kreml in China, Nordkorea und dem Iran „zuverlässige Partner“.
Die Hoffnung auf einen schnellen Kreml-Kollaps hält Wiegand für naiv. „Ich denke, dass Russland noch eine ganze Zeit durchhält. Wir sollten nicht darauf setzen, dass das System morgen schon wirtschaftlich am Ende ist und zusammenbricht“, so die Rüstungsexpertin. „Das wäre eine Fehlkalkulation.“
Diese Schwäche hat die Nato
Und die Nato?
Wenn Russland als Reaktion auf den Waffenstillstand weitere Kräfte bereitstelle, „dann ist das extrem herausfordernd für alle Beteiligten in der Nato, die Ostflanke längerfristig unter Kontrolle zu halten“, sagt Wiegand. „Mit Blick auf Munitionsbestände, auf Material, auf Personal, aber vor allem auch auf die Logistik und Infrastruktur.“
Im Ernstfall müssten die Truppen an der Ostflanke mit „Wasser, Kraftstoff, Medikamenten“ versorgt werden. Wiegand höre von Experten, dass „die Durchhaltefähigkeit über eine längere Dauer ein kritischer Punkt“ sei.
Was braucht die Bundeswehr? – „Wenig Politik“
Ist die Bundeswehr für einen Bündnis-Fall gerüstet?
Geld alleine wird nicht reichen, um die deutschen Streitkräfte schnell in Form zu bringen. Es brauche Radikal-Reformen. „Wenn wir mehr Milliarden in das bestehende System kippen, wird nicht viel rauskommen“, sagt Wiegand. „Wir bewegen uns nach wie vor in dem System, in den Prozessen, in den Strukturen der letzten 30 Jahre.“ Der Friedensjahre! Da „war jeder Euro, der nicht ausgegeben wurde, ein Guter“. Das sei nun grundlegend anders.
„Ich würde unbedingt Industriekompetenz und militärische Kompetenz in die Führungsspitze reinbringen“, sagt Wiegand über das Verteidigungsministerium. „Und zwar nicht theoretische, sondern kampf- und einsatzerfahrene Kompetenz.“
Nur so könne Tempo gemacht werden: „Es bringt nichts, dass wir uns jetzt mit Dingen beschäftigen, die uns in 2035 oder 2040 zulaufen.“ Das ist weder für Russland abschreckend, noch entspreche es dem Handlungsdruck, den US-Präsident Donald Trump geschaffen habe.
„Es braucht viel Mut und viel Veränderungsbereitschaft und wenig Politik.“