Sein letztes Rodeo

An Spieltagen wird LeBron James hochgefahren wie ein altes Kohlekraftwerk. Aktivierung nennt sein Fitnesstrainer diesen Prozess, der zehn Stunden vor in einer Eistonne beginnt. Muskeln, Gelenke, Bänder: Alles muss einmal schockgefrostet und dann auf Temperatur gebracht werden, von außen nach innen, angefangen bei den , bis buchstäblich in die Zehenspitzen, die sich bei James im Verlauf von gut 30 Jahren Basketball lustig übereinander geschoben haben. Nach einem Nickerchen kommt der berühmteste Athlet der Sportart spätestens vier Stunden vor Spielbeginn in der Halle seiner Los Angeles Lakers an. James ist immer der Erste auf dem Court, höchstens ein paar Cheerleader sind schon da. Nach und nach trudeln unter Kopfhörern und Kapuzenpullis die Mitspieler ein.

Die Netflix-Doku hat letztes Jahr das sagenumwobene Work-out- und Regenerationsregime von James behandelt. Spieltage sind für ihn 16-Stunden-Tage, spielfreie Tage kaum weniger zugestopft mit Terminen und Therapien. Gönnt sich James eine Pause vor der Playstation, stecken seine Beine in durchblutungsfördernden Kompressionsstiefeln. Wird er nicht massiert oder gestretcht, kälte- oder wärmebehandelt, lässt er sich in einer Unterdruckkammer mit Premiumsauerstoff versorgen. Hobbysportler fühlen sich durch die , die eines der Zimmer in James‘ Villa belegt, vielleicht an die Miniversion einer aufblasbaren Tennishalle erinnert. Wer sonst eher True-Crime auf Netflix guckt, denkt womöglich auch an einen Leichensack.

In der Medizin werden Unterdruckkammern eingesetzt, um Kohlenmonoxidvergiftungen zu behandeln, Taucher und Astronauten, die einem starken Abfall von Wasser- oder Luftdruck ausgesetzt waren, Menschen außerdem, denen nach Verletzungen oder Infektionen eine Amputation droht. Ärzte kämpfen mit diesen Kammern also um Arme und Beine, und in gewisser Weise tut das auch LeBron James. Alles ist bei dem 40-Jährigen darauf ausgerichtet, die ohnehin schon langlebigste Karriere in der Geschichte der National Basketball Association (NBA) um einige weitere Saisons zu verlängern. In einem Alter, in dem Bewegung für viele Menschen bedeutet, Spaziergänge mit umgeschnallten Babys zu machen (die man am nächsten Morgen dann im Rücken spürt), sucht er immer noch den Wettkampf mit anderen Basketballern und den Wettlauf gegen die Zeit.

Will man LeBron James dabei zugucken, geht das zum Beispiel in Downtown Los Angeles, der Heimat seiner Lakers. Auf den billigen Plätzen in der Crypto.com Arena, dort, wo man 250 US-Dollar für ein Zweitmarkt-Ticket bezahlt, riecht es nach Weed und Nachosoße – nach Dingen also, die James seinem Körper niemals antun würde. Die Klappsitze klemmen erst und quietschen dann beim Hoch- und Runterklappen, mit den Schuhen bleibt man am Betonboden kleben. Ob hier oben, in Block 332, wohl nach jeder Veranstaltung feucht durchgewischt wird?

Die Lakers gelten als glamourösestes Team der NBA. Magic Johnson und Kareem Abdul-Jabbar haben für sie gespielt, Kobe Bryant und Shaquille O’Neal, Sportler also, die man auch kennt, wenn man beim Namen Michael Jordan zuerst an den Schauspieler denkt. Nun ist also James ihr größter Star, der beste Spieler der letzten 25 Jahre und derzeit wohl der einzige, den man auch in die Late-Night-Show von Jimmy Kimmel setzen könnte. Natürlich ist der Talkmaster Lakers-Fan, regelmäßiger Gast in der Crypto.com Arena wie auch Leonardo DiCaprio, Denzel Washington oder früher Jack Nicholson.

Auf der Ameisenfarm

Von dem Glamour, der die Lakers umgeben soll, kommt knapp unter der Hallendecke jedoch wenig an. Viele, die hier sitzen, sind allein gekommen, ein paar auch mit Schildern, auf denen steht, wie weit sie gereist sind, um James spielen zu sehen. 6.000 Meilen? Da kann man als Berliner sogar mithalten. Nun aber leichte Produktenttäuschung: Das Warm-up-Gewusel, das man eine Stunde vor  auf dem Court beobachtet, könnte ohne Fernglas auch eine Ameisenfarm sein. Spieler und Trainer schlängeln sich zwischen Medienvertretern, Werbeleuten und Kindern hindurch, die offenbar eine Führung über das Spielfeld gewonnen haben. Der Videowürfel warnt blitzend und blinkend vor dem Einsatz von Blitz- und Blinkeffekten. Wenigstens unten auf dem Parkett wird noch einmal ordentlich gewischt.

Die Lakers treffen an einem Freitag Ende Februar auf die Clippers, das zweite NBA-Team aus Los Angeles. Stadtderby, denkt man da, Real Madrid gegen Atletico, AC Milan gegen Inter oder, für die ganz Harten, River Plate gegen Boca Juniors, der Superclásico aus Buenos Aires. Historisch betrachtet passt jedoch FC Bayern gegen 1860 München besser. 17 Meisterschaften in 79 Ligajahren haben die Lakers gewonnen. Die Clippers hätten 2021 fast mal die NBA-Finals erreicht. Ihr größter Star war ein ewiges, ewig verletztes Talent, dessen Namen Sie noch nie gehört haben. Ihr berühmtester Fan war jahrzehntelang der Schauspieler Billy Crystal. Oft saß er so verloren bei Clippers-Spielen herum, dass es wie Training aussah für seine nächste Rolle als trauriger Clown in irgendeiner romantischen Komödie.

Zu den Dingen, die bei einem Spiel der L. A. Lakers egal sind, gehört also schon mal der Gegner. 82 Partien umfasst die sogenannte Regular Season für jedes NBA-Team zwischen Oktober und April, dann beginnen die Playoffs, in denen sich die Meisterschaft entscheidet. Kein normaler Mensch geht also im Februar in die Halle, weil zwei Mannschaften aufeinandertreffen, die sich um einen Platz im oberen Tabellendrittel streiten. Es geht im Wesentlichen darum, LeBron James zu sehen, solange das noch möglich ist. Seit 22 Jahren spielt er in der NBA, das ist Rekord. 1.832 Mal ist er vor der Partie gegen die Clippers aufgelaufen, gut 50.000 Punkte hat er dabei erzielt und gut 18.000 Würfe daneben gesetzt. Auch das sind Rekorde, so wie fast alles, was man sich in der NBA mit Durchhaltevermögen verdienen kann, inzwischen ein LeBron-James-Rekord ist.

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