Im Land der 65.000 Fußballplätze

Man hat ja eine Vorstellung davon, wie der Fußballplatz aussehen könnte, auf dem Thomas Müller das Fußballspielen gelernt hat. Man stellt sich ein bayrisches Idyll vor, eine Fußballwiese inmitten von Nichtfußballwiesen. Ein paar Bäume am Spielfeldrand und ein Fangnetz, über das der Ball dann doch gern mal in die Nachbargärten hineinfliegt. Eine Bande mit den örtlichen Sponsoren, einem Klempner vielleicht, dem Ortsbäcker. Der süßlich-brennende Geruch, der vom Kuhstall nebenan herüberweht.

Und dann steht man da am Sportplatz des TSV Pähl im Pfaffenwinkel, zwischen Starnberger, Ammersee und Kloster Andechs, gegründet in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, und sieht: zwei Fußballwiesen inmitten von Nichtfußballwiesen, Bäume am Spielfeldrand, eine Bande mit den örtlichen Sponsoren. Und man riecht ihn wirklich: den Stall. Es ist, tatsächlich, so viel Pathos muss sein: ein deutscher Fußballtraum.

Von der Terrasse des Vereinsheims blickt Dieter Fottner über die beiden Fußballplätze des TSV Pähl. “Den heutigen
Trainingsplatz, das war früher das Spielfeld, mussten wir einige Meter
nach hinten verlegen, als wir das neue Vereinsheim gebaut haben”, sagt der Vereinsvorstand. Hier hat er also gespielt, Thomas Müller, der nach Titeln erfolgreichste deutsche Fußballer. Hier hat bei ihm alles angefangen. Auf einem Fußballplatz wie jedem anderen. Auf einem von Zehntausenden Plätzen dieses Landes.

Die Fußballplätze des TSV Pähl © ZEIT ONLINE

Wir haben sie alle mithilfe der offenen Datenbank OpenStreetMap erstmals gezählt: 65.000 Plätze sind es über das gesamte Land verteilt. Deutschland ist ein Land der Fußballplätze. Es gibt demnach mehr Bolz- und Fußballplätze als Kirchen (etwa 44.000), Lebensmittelläden (etwa 34.000) oder Restaurants (etwa 64.000).






Und diese Plätze sind nicht einfach nur Fußballplätze. Sie sind Sportanlage, Begegnungsstätte und zugleich die Basis für den Erfolg der Fußballnation Deutschland. Oder einfacher: Die Basis ist die Basis.

Fast alle der aktuellen deutschen Nationalspieler haben ihre ersten Schritte nicht bei den großen bekannten Clubs des Landes gemacht, sondern bei den kleinen und mittleren Vereinen ihrer Region. Einzig die Torhüter Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen haben Proficlubs als erste Station in ihrer Vita stehen. Die meisten aber sind auf den Plätzen der kleineren Vereine groß geworden. Kai Havertz auf dem des SV Alemannia Mariadorf 1916 in der Nähe von Aachen. Niclas Füllkrug auf dem des TuS Ricklingen vor den Toren Hannovers. Jamal Musialas erster Verein war der TSV Lehnerz, mittlerweile aufgegangen in der SG Barockstadt Fulda-Lehnerz.

Die Nationalspieler waren und sind alle noch Teil der etwa 2,2 Millionen aktiven
Spieler und Spielerinnen, die über die Landesverbände beim DFB
organisiert sind. Das macht den DFB zum größten Sportverband der Welt.

Die Welt der Profis und Amateure mag auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Doch das ist falsch. Beide spielen das gleiche Spiel. Die eine Welt gäbe es ohne die andere nicht. Die Profis mögen die Amateure beeinflussen, aber ohne die Arbeit, das Engagement, das Ehrenamt von und in den etwa 24.150 Vereinen gäbe es keinen Profisport. Sie sind die Grundlage auch des deutschen Erfolgs bei dieser EM.

Womöglich haben viele Spieler auch auf einem der Tausenden Bolzplätze das erste Mal einen Ball am Fuß gehabt. Auf den Käfigen in den Innenstädten, die zu keinem Verein gehören, sondern zum Kiez. Dort haben sie Dribbeln und Schießen gelernt, Jubeln und Weinen. 

Das ist die große Stärke des Fußballlandes Deutschlands. Dass überall gekickt wird. Im Norden und im Süden, im Osten und im Westen. Dass Groß und Klein gegen den Ball treten, Dick und Dünn, Arm und Reich.

Aus den Besten werden Profis, den Allerbesten nur, aber darum geht es gar nicht unbedingt. Der ehemalige Basketballer Henning Harnisch prägte mal den Begriff des Sportbürgers. Er meint damit, dass Sport bei Kindern und Jugendlichen Teil der eigenen Identität wird. Weil Sport bereichert, jeden selbst und die Gesellschaft. Weil Sport die Gesundheit fördert, das Miteinander, die Kreativität.

Die Fußballvereine machen demnach nicht nur Sportler, sondern auch Persönlichkeiten. Sie sind eine Lebensschule, einer der letzten Orte, an denen unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Blasen zusammentreffen. Die integrative, demokratisierende Wirkung des Fußballs ist kaum zu überschätzen.

Und die Nähe zwischen Profis und Amateuren ist noch immer da. Bis heute sind die Müllers mit
dem TSV Pähl verbunden. Die Mutter spielt Tennis, der Bruder immer noch
Fußball. Und Thomas Müller? Natürlich Mitglied, immer noch. Thomas Müller hat, da war er längst in den Jugendmannschaften des FC Bayern,
noch bis 18 in der Gemeinde gewohnt. Auf dem Fußballplatz, wo sein zwei
Jahre jüngerer Bruder Simon bis heute spielt, schaute er zu, auf dem
Tennisplatz spielte er noch selbst – und wurde mit 17 Jahren
Clubmeister.

30-jähriges Vereinsjubiläum haben sie in Pähl in diesem Jahr gefeiert. Vor fünf Jahren, beim Silberjubiläum, kam Thomas Müller zur Urkundenüberreichung. “Hier tritt ja keiner aus. Unser Mitgliedsbeitrag ist zu niedrig”, sagt der Vereinsvorstand Dieter Fottner.

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