Warum lässt der türkische Machthaber ausgerechnet jetzt seinen größten Konkurrenten festnehmen? Immerhin findet die nächste Wahl erst 2028 statt. Und rein rechtlich dürfte Erdogan gar nicht mehr antreten.

Ekrem Imamoglu, der Bürgermeister von Istanbul, wurde am Mittwoch wegen angeblicher Korruptionsvorwürfe und Terrorverdacht festgenommen. Jetzt sitzt er in U-Haft – zumindest die Korruptionsvorwürfe sahen die Richter als erwiesen an. Das türkische Innenministerium hat Imamoglu nun vorläufig seines Amtes enthoben. Jetzt übernehmen Erdogans Leute.

▶︎ Damit hat der türkische Präsident die Kontrolle über Istanbul übernommen – und das ist wichtig für ihn. Denn in der Türkei gilt der Satz: „Wer Istanbul verliert, verliert auch die Türkei.“

Auch Erdogan selbst sagte das zuletzt bei der Kommunalwahl 2019 – die Imamoglu dann für sich entschieden hat.

„Er fürchtet Imamoglu wie keinen Gegner zuvor“

Imamoglu ist der beliebteste Politiker der regierungskritischen CHP, hat Istanbul bereits zweimal gewonnen. Erdogan hat große Angst vor ihm, sagt Eren Güvercin (45). Der Journalist und Türkei-Experte zu BILD: „Er fürchtet Imamoglu wie keinen Gegner zuvor – zu Recht.“

Ihm konnte der Despot Istanbul nicht überlassen. In der Metropole wohnt fast jeder fünfte Türke (mehr als 15 Mio.), rund jede dritte Lira wird dort erwirtschaftet. Die Stadt kontrolliert den Bosporus, ist die Hauptstadt des untergegangenen Osmanischen Reichs. Istanbul vereint alles, was Erdogan will: Macht, Symbolik, Reichtum.

Aber warum ausgerechnet jetzt? „Es wirkt etwas übereilt, weil die Wahlen erst in drei Jahren sind. Aber ich glaube, Erdogan wird gar nicht so lange warten“, mutmaßt der Türkei-Kenner Güvercin. Er glaubt: Der Präsident plant Neuwahlen mit vorgeschobener Begründung. Denn: Zu solchen könne er laut einigen AKP-nahen Juristen problemlos antreten.

Neuwahlen statt Warten bis 2028

Güvercin sicher: „In spätestens zwei Jahren wird es dazu kommen.“ Eine Begründung müsse der türkische Präsident sich nicht überlegen. Güvercin zu BILD: „Erdogan braucht keine Erklärung – wenn er eine Entscheidung trifft, wird in der Türkei genug Kreativität aufgebracht, um eine passende Begründung zu finden.“

Und mit der Verhaftung des Oppositionsführers stehe nun endgültig fest: „Wir haben es ab jetzt mit einer Diktatur wie Putins Regime zu tun.“ Erdogan versuche nun nicht einmal mehr, einen demokratischen Schein zu wahren.

Mit einem eingesperrten Imamoglu hat Erdogan keinen Gegenkandidaten mehr, der ihm gefährlich wird. Denn der 53-Jährige ist etwas Besonderes in der CHP: Einen Kandidaten wie ihn, der sowohl die Regierungskritiker als auch Konservative hinter sich vereinen kann, gibt es sonst nicht. „Genau das macht Imamoglu so gefährlich für Erdogan und erklärt dessen Besessenheit, ihn auszuschalten.“