Im BILD-Talk erklärt Ex-Vizekanzler und -Finanzminister Peer Steinbrück (77, SPD) seine „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, die gewaltige Reformen für die deutsche Politik, Wirtschaft und Verwaltung einfordert. Das Papier hat Steinbrück gemeinsam mit der Unternehmerin Julia Jäkel, Ex-Innenminister Thomas de Maiziere, Ex-Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle erarbeitet.

BILD: Brösel-Brücken, löchrige Straßen, Kaputt-Bahn, Mega-Bürokratie – wie marode ist Deutschland?

PEER STEINBRÜCK: Wir stellen fest, dass wir die letzten zehn, zwölf, vielleicht 15 Jahren nicht genügend Hausaufgaben gemacht haben. Uns ausgeruht auf einem sehr hohen Lebensstandard, auf einer guten Infrastruktur. Wir hatten ein Geschäftsmodell, das lange funktionierte, indem wir billige Energie kriegten, teilweise aus Russland. Indem wir sehr erfolgreich auf dem Exportmarkt waren, insbesondere mit China und indem wir unter dem Schutzschirm sicherheitspolitisch der Amerikaner standen. Wir haben gedacht, dass lässt sich einfach so verlängern, ohne unsere Infrastruktur zu modernisieren, ohne stärkere Anstrengungen in die Digitalisierung.

Was ist die größte Baustelle aus Ihrer Sicht?

Der entscheidende Punkt ist, dass der Staat das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger verliert, in seine Handlungs- und Funktionsfähigkeit. Ein Beispiel: die Infrastruktur. Aber Eltern haben auch einen klaren Blick auf den Bildungsföderalismus und auf den Zustand der Schulen. Wirtschaftsunternehmen leiden unter enormen Bürokratiekosten. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist nicht ausreichend und viele Menschen wissen auch, dass eine Zeitenwende eigentlich damit verbunden ist, dass wir eine neue Sicherheitsarchitektur in unserem Land brauchen. Das alles verdichtet sich zu einem Zustand, wo dieses Land wirklich sich mit der Frage beschäftigen muss: Brauchen wir eine Ertüchtigung unseres Maschinenrums? 

Und die Antwort ist?

Die Antwort lautet: JA. Wir brauchen das – ohne dass man deshalb dramatisieren sollte. Diese Bundesrepublik Deutschland ist nach wie vor die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Nur: Wir kriegen es nicht auf die Straße, wir kriegen es nicht umgesetzt. Der Staat ist getrieben von einer Art Misstrauen gegenüber seinen Bürgern und seinen Unternehmen und überzieht diese mit einer unendlichen Flut von Dokumentationsnachweisen und -Pflichten.

Das heißt, Deutschland wird unter Wert regiert?

Ja, natürlich ist die Politik maßgeblich daran beteiligt. Sie setzt die notwendigen Rahmen. Aber es ist nicht nur die Politik, es ist auch eine verbreitete Stimmungslage in der Bevölkerung. Auf die Gefahr hin, dass ich ein bisschen Publikumsbeschimpfung betreibe – viele glauben, man könne sich bequem in einer permanenten Gegenwart einrichten. Und es ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass wir uns anstrengen müssen, wenn wir das hohe Wohlstandsniveau und das hohe Niveau unseres Sozialstaates erhalten wollen.

„Lamentieren und Nölen reicht nicht“

Als Bürger verliert man langsam die Geduld: Seit Jahren wird immer erzählt, es kommen Reformen. Aber die Bürger empfinden den Staat als miesepetrig, übergriffig und vor allem als ungerecht. Ist es da nicht an der Politik, den Bürgern eine echte Reform anzubieten?

Ja, das ist ja der Grund, warum wir uns zu viert dieses Themas angenommen haben. Allerdings auch in dem Bewusstsein: Lamentieren und Nölen reicht nicht. Und manchmal stelle ich fest, dass die Nölerei ein bisschen übertrieben wird und das Lamento auch sich selbst verstärkt. Damit bringen wir dieses Land nicht voran.

Wir haben gerade Koalitionsverhandlungen. Welche ihrer Punkte gehören in den Koalitionsvertrag? 

Ich habe sechs, also im Telegrammstil. Erstens: Wir brauchen eine Vertrauenskultur statt Misstrauenskultur. Das heißt: weg mit Nachweis, Dokumentationspflichten und dergleichen! Stattdessen den Bürgern einfach vertrauen, sie werden es richtig machen – wenn Sie regelkonform verhalten. Aber: Diejenigen, die bei Stichproben erwischt werden, die werden mit starken Sanktionen überzogen.

„Wir brauchen solidere Gesetze“

Punkt zwei?

Der Staat muss sich schneller digitalisieren, insbesondere auch im Sinne einer großen Bürgerfreundlichkeit, wir liegen da weit hinterher hinter skandinavischen und baltischen Ländern. Drittens: Die Zeitenwende braucht eine neue Sicherheitsarchitektur. Wir brauchen ein nationales Sicherheitskonzept, einen nationalen Sicherheitsrat. Viertens: Wir müssen die Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen ganz eindeutig klären, so dass die Verantwortlichkeiten deutlich werden und auch die entsprechenden Finanzmittel eindeutig zugeordnet werden. Fünftens: Wir brauchen eine solidere Gesetzgebung. Schlechte Gesetze haben die Folge von Bürokratie. Wir brauchen von den Gesetzen Praxistauglichkeits-Checks. Wir müssen die Beteiligten frühzeitig einbeziehen, damit nicht das Gestänge dieses Gesetzes so verbogen wird, dass wir es anschließend immer wieder geradebiegen müssen.

Was noch?

Wir brauchen eindeutig eine Vereinfachung des überkomplexen Sozialstaates.

Sie haben für den Bericht lange recherchiert. Was war die schlimmste Bürokratie-Kapriole, die Ihnen begegnet ist?

Ich bin unter Mithilfe des Normenkontrollrates auf einen Fall im sozialen Bereich gestoßen: eine alleinerziehende Frau mit einem pflegebedürftigen Vater. Diese Frau hat Anspruch auf über zehn Sozialleistungen, denen vier verschiedene Einkommensbegriffe zugrunde liegen, die aus fünf Bundesministerien kommen und für die sie zu acht Bewilligungsstellen laufen muss.

Das ist ein Indiz für die Überkomplexität dieses Sozialstaat. Wenn wir diesen Sozialstaat nicht effektiver und effizienter machen, dann kriegen wir richtige Schwierigkeiten.

Und wie kriegt man den Sozialstaat effizienter?

Wir schlagen vor, erstens alle Sozialleistungen nicht in fünf Bundesministerien zu haben, sondern in EINEM. Dann schlagen wir vor, dass wir diese Sozialleistungen bündeln auf drei Bedarfsgruppen: Kinder/Jugendliche, Erwachsene und die Haushalte. Es gibt im Moment fünf oder sechs Sozialleistungen, die Kinder und Jugendlichen zustehen – warum macht man nicht EINE daraus?

Drittens: Pauschalierung! Regelleistungen soll pauschaliert werden, und sie müssen viel einfacher beantragt und abgerufen werden können – auf einer großen digitalen zentralen Plattform, die es den Anspruchsberechtigten viel leichter macht und zugleich die Sozialadministration entlastet.

„Viele Lehrer werden von der Schulverwaltung erdrückt“

Ein großes Ärgernis: das deutsche Bildungswesen – ein Gestrüpp an Zuständigkeiten. Die Länder nehmen gern das Geld vom Bund, der Bund darf nicht mitreden. Man streitet sich permanent. Unterdessen werden Schulklos nicht besser, die Schulabschlüsse auch nicht. Was muss sich da ändern?

Sie haben völlig recht mit der Analyse: Eltern, kriegen einen dicken Hals darüber, auch über den Flickenteppich der verschiedenen Schulsysteme von Bundesland zu Bundesland. Deshalb wollen wir neben der klaren Zuordnung von Zuständigkeiten und damit auch der Finanzmittel einen Nationalen Bildungsrat einrichten, der Empfehlungen aussprechen soll, zum Beispiel zu Bildungsstandards bei Kernfächern oder Standards für die Abschlussprüfung von Schulen. Oder für die Entwicklung der Lehrerausbildung und -fortbildung, für den Ganztagsunterricht. Wie dann die Länder diese Standards erfüllen, liegt in ihrer Zuständigkeit.

Darüber hinaus brauchen die Schulen mehr Selbstbestimmung. Da sind viele Schulleiter und viele Lehrerinnen und Lehrer, die von der Schulverwaltung erdrückt werden, es aber vor Ort teilweise sehr viel flexibler und sehr viel besser machen können. Und ich füge hinzu: auch kostengünstiger!

Ein Beispiel?

Ich habe auch mit einer Schulleitung aus Hamburg gesprochen. Die hat ihre Schule ausgerüstet mit Bundesgeldern für Laptops. Die sind langsam veraltet und die Schule könnte von einem benachbarten Unternehmen ausgesonderte Laptops viel günstiger kriegen, als wenn sie mit Blick auf irgendeine Antragstelle neu kaufen und bezahlen müsste. Das sind so Beispiele – auch mit Blick auf die Gebäudegestaltung, mit Blick auf die Verbindung von Investitionsmitteln und Sachmitteln.

„Es geht um die Zukunft unserer Demokratie“

Glauben Sie nach den Gesprächen, die Sie auch jetzt mit den möglichen Koalitionspartnern Union und SPD geführt haben, dass in den nächsten vier Jahren dieses Monstrum an Strukturreform wirklich angegangen wird?

Ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein auch bei den Spitzen der drei Parteien sehr klar ist: Wenn eine solche neue große Koalition in den nächsten vier Jahren nicht das erodierte Vertrauen in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit zurückgewinnen kann, dann wissen alle, dass die nächsten Bundestagswahlen eine Nagelprobe auf den deutschen Parlamentarismus werden. Da reden wir über nichts anderes als über die Fortentwicklung unserer Demokratie.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Noch-nicht-Koalition, die sich quasi den Dispo auf Unendlich geschaltet hat, nun einfach sagt: Wozu Reformen? Wozu jetzt noch einsparen und Strukturen verändern? Geld ist doch reichlich da.

Ich bin ein bisschen verwundert über die Akzentverschiebung, die es in der öffentlichen Debatte über die Frage der Schuldenaufnahme gibt. Vor drei, vier Monaten war noch ziemlich verbreitet – bei Politik und Medien –, dass wir angesichts eines immensen Investitionsbedarfs eine Reform der Schuldengrenze brauchen.

Ich bin für eine Reform der Schuldenbremse, obwohl ich wahrscheinlich einer derjenigen bin, die mitverantwortlich sind für die noch gültige Schuldenbremse aus dem Jahr 2009. Und dazu stehe ich. Aber ich bin dafür, dass über eine solche neue Schuldenbremse bzw. die Aufnahme oder Gründung von Sondervermögen das Geld nicht konsumtiv ausgegeben wird, sondern eindeutig investiv – für die Zukunft dieses Landes.

„Leute hört den Knall – und werdet tätig!“

Andreas Voßkuhle, ehemals Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat bei der Vorstellung ihres Berichtes gesagt, Deutschland drohe der Abstieg zu einem Zweite-Welt-Land – also auf das Niveau von Malaysia oder der Türkei …

Er macht damit den Handlungsbedarf deutlich. Für ihn ist das eine Wenn-dann-Beziehung: Wenn wir uns nicht anstrengen, wenn wir nicht in der Lage sind, dieses Staatswesen wirklich zu modernisieren oder zu reformieren. Wenn wir diesen Maschinenraum unseres Staatswesens nicht in Ordnung bringen und ertüchtigen, so dass er besser läuft – dann steigen wir ab. Dann spielen wir nicht mehr in der Champions-League, dann werden wir an internationalem Einfluss verlieren. Wir werden an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Das wird sich auf unser Wohlstandsniveau auswirken und auch auf die Finanzierung des deutschen Sozialstaates. Das muss allen ziemlich klar sein.

Das ist die Aufforderung: Leute, hört den Knall! Nehmt vieles auf – und werdet tätig.