Bis zu 62 Milliarden Euro zusätzliche Schulden im Jahr – Die Reform-Pläne der Bundesbank

Die Deutsche Bundesbank mischt sich mit einem neuen Konzept für die Schuldenbremse in die politische Diskussion über die künftige Finanzierung der Ausgaben des Bundes ein. „Unser Reformvorschlag zur Schuldenbremse bewahrt die soliden Staatsfinanzen und erleichtert gleichzeitig dringend nötige Investitionen“, sagte Bundesbankpräsident Joachim Nagel.

Bei der Umsetzung des Vorschlags wären im Vergleich zu der heutigen Regel im Jahr 2028 zwischen 23 Milliarden und 47 Milliarden Euro zusätzliche Schulden möglich, 2029 zwischen 36 Milliarden und 61 Milliarden Euro, 2030 bis zu 62 Milliarden Euro – je nachdem, wie hoch die staatliche Gesamtverschuldung bis dahin liegt. In den Jahren 2026 und 2027 würde sich der Spielraum realistisch aber gerade einmal um zusammen drei Milliarden Euro erhöhen.

Die aktuelle Suche von CDU/CSU und SPD nach einem zusätzlichen dreistelligen Milliardenbetrag für die Bereiche Verteidigung und Infrastruktur würde eine Reform à la Bundesbank also keineswegs erleichtern. Umfassende Sparanstrengungen in anderen Bereichen wären notwendig. In den Sondierungsgesprächen geht es deshalb vor allem um sogenannte Sondervermögen im dreistelligen Milliarden-Euro-Bereich.

Nagel machte deutlich, dass er lieber eine neue Regel als neue Sondertöpfe sehen würde, stellte sich aber nicht gegen die aktuellen Ideen in den Sondierungsgesprächen. „Wir bevorzugen eine grundlegende Reform der Schuldenbremse, die bessere Planbarkeit bietet, ein Sondervermögen mit vergleichbarem finanziellem Rahmen wäre aber ebenfalls möglich“, erklärte Nagel.

Orientieren soll sich laut Bundesbank die Neuverschuldung künftig daran, ob die Staatsverschuldung über oder unter 60 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt. Diese Marke ist in den EU-Schuldenregeln als Orientierungspunkt festgeschrieben. Der aktuelle Wert für Deutschland liegt bei 63 Prozent, nachdem er 2021 noch 69 Prozent betragen hatte. Im EU-Durchschnitt liegt er aktuell bei 83 Prozent.

„Deutschland steht bei der Schuldenquote im internationalen Vergleich gut da“, sagte Nagel. Notwendige Maßnahmen zur Stärkung von Infrastruktur und Verteidigung seien deshalb möglich, ohne „langfristig tragfähige Staatsfinanzen im Einklang mit europäischen Vorgaben“ zu gefährden.

Noch im Januar hatte das zunächst etwas anders geklungen. Damals hatte sich Nagel auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos dafür ausgesprochen, ein Konzept zu entwickeln, bei dem die bisherige Schuldenobergrenze von 60 Prozent aufgeweicht würde.

Angesichts der „tektonischen Verschiebungen in der Welt“ reiche es nicht mehr aus, die Schuldenregeln nur ein bisschen zu ändern, sagte er damals. Kritiker sahen darin einen Bruch mit der stabilitätsorientierten Tradition seiner Vorgänger. Mit dem nun vorgelegten Vorschlag scheinen sich offenkundig jene Kräfte innerhalb der Bundesbank durchgesetzt zu haben, die für genau diese Tradition stehen.

Im Detail sieht der Vorschlag vor, die Kreditspielräume des Bundes von den aktuell geltenden 0,35 Prozent auf maximal 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen, sofern die Schuldenquote unter der 60-Prozent-Marke liegt. Diese Spielräume umfassen einen Sockel von 0,5 Prozent des BIP sowie 0,9 Prozent ausschließlich für zusätzliche Investitionen. Ein Teil dieser Investitionskomponente ist für Zuschüsse an Länder und Gemeinden vorgesehen, die den Großteil der Sachinvestitionen verantworten.

Überschreitet die Schuldenquote die 60-Prozent-Marke, bleibt der Spielraum von 0,9 Prozent für Investitionen bestehen. Der 0,5-Prozent-Sockel entfällt dann.

„So wird einerseits eine Schuldenquote von unter 60 Prozent belohnt und zugleich Planungssicherheit für Investitionen geschaffen“, sagte Nagel. Die seit 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse soll verhindern, dass der Schuldenberg so groß wird, dass der Staat immer neue Kredite aufnehmen muss, um diesen abzutragen.

„Volksmund weiß, dass das in aller Regel nicht gelingt“

Für Finanzwissenschaftler Thiess Büttner von der Universität Erlangen-Nürnberg greift der Vorschlag der Bundesbank insgesamt indes zu kurz. „Die Bundesbank versucht mit ihrem Vorschlag, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Schulden zu begrenzen und die öffentlichen Sachinvestitionen zu steigern. Der Volksmund weiß, dass das in aller Regel nicht gelingt“, kommentierte er das Konzept.

„Angesichts der vielfältigen und fortgesetzten Versuche von Bund und Ländern, die Schuldenbremse zu unterlaufen, und den Schwierigkeiten Deutschlands, die neuen europäischen Vorgaben einzuhalten, hielte ich es für sinnvoller, sich bei der Reform der Schuldenbremse auf eine wirksame Begrenzung der Schulden zu konzentrieren.“ Gelänge dies, könne man auch die Tilgungsvorschriften zu den Notlagenkrediten überdenken, wie es die Bundesbank vorschlage.

Andere Ökonomen begrüßen den Ansatz der Währungshüter aus Frankfurt zwar grundsätzlich, äußerten aber ebenfalls Kritik an den Details. „Die Bundesbank ist in den aktuellen Debatten über teils astronomische Sondervermögen mit ihren Beträgen eher auf der konservativen Seite, das ist gut“, sagte Friedrich Heinemann, der Leiter des Forschungsbereichs Öffentliche Finanzen am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung.

Er hebt den Ansatz hervor, dass neue Schulden nicht für Gegenwartsausgaben eingesetzt werden dürfen. Fraglich sei allerdings, ob der gewählte Investitionsbegriff letztlich nicht zu eng ausfalle. „Es gibt Ausgaben im Bereich wie Bildung, Forschung und Umwelt- und Klimaschutz, die nicht als Investitionen verbucht werden, aber einen wichtigen Zukunftsbeitrag leisten“, sagte Heinemann.

Genau diesen Punkt kritisiert auch Finanzwissenschaftler Büttner. „Ökonomisch ist dieser Fokus auf eine Ausgabenart nicht überzeugend. Warum Sachinvestitionen, sind nicht vielleicht Bildungsausgaben oder Forschungsausgaben auch für das Wachstum wichtiger?“, sagte er.

Auch Jens Boysen-Hogrefe, stellvertretender Leiter der Konjunkturabteilung des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), verweist auf die Priorisierung von Investitionen. Es zeige sich immer wieder, dass eine angespannte Kassenlage als Erstes zulasten von Investitionen gehe. Der „plausible Reformvorschlag“, wie der Steuer- und Haushaltsexperte ihn nennt, habe in der aktuellen Lage aber keine hohe Dringlichkeit, da er in absehbarer Zukunft nicht zur Anwendung komme – sofern sich CDU/CSU und SPD auf die neuen gewaltigen Sonderschulden einigten.

„Die 60 Prozent werden nach den Sondervermögen sehr lange Zeit außer Sicht geraten“, sagte Boysen-Hogrefe. Gäbe es neue Sondertöpfe für Verteidigung und Infrastruktur in Höhe von zusammen 800 Milliarden Euro, liege die Schuldenstandquote Ende des Jahrzehnts deutlich höher als heute.

Hinzu kommt, dass die Umsetzung des Konzeptes, wie es der Bundesbank vorschwebt, Zeit benötigt. Sie wird sich nicht noch schnell mit der Zwei-Drittel-Mehrheit von CDU/CSU, SPD und Grünen im alten Bundestag im Grundgesetz verankern lassen. Dies müsste bis spätestens zum 24. März geschehen. „Eine umfassende Reform der Schuldenbremse mit einer Regelung, die zugleich der akuten Notsituation aber auch einem Normalbetrieb gerecht wird, halte ich in der Kürze der Zeit für kaum möglich“, sagte Boysen-Hogrefe. Die diskutierten Sondervermögen seien dagegen eine probate Lösung für die Politik, um angesichts der veränderten Sicherheitslage schnell handlungsfähig zu sein.

Anja Ettel ist Korrespondentin für Wirtschaft und Finanzen in Frankfurt. Sie berichtet über die Pharma- und Chemieindustrie, Biotechnologie, Konjunktur und Geldpolitik. Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er schreibt unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.