„Kurden passen nicht ins westliche Weltbild“

ZEIT ONLINE: Frau Jasim, nach einem Aufruf des PKK-Gründers Abdullah Öcalan hat die kurdische Arbeiterpartei heute eine Waffenruhe mit der Türkei ausgerufen. Kehrt nun Frieden zwischen der türkischen Regierung und den Kurden ein?  

Dastan Jasim: Die PKK knüpft ihre Waffenruhe an Bedingungen. Sie fordert einen juristisch begleiteten Prozess und eine Freilassung von Abdullah Öcalan, damit er die Federführung in den Verhandlungen mit der Türkei übernehmen kann. Bisher hat die Türkei sich dazu noch überhaupt nicht geäußert.

ZEIT ONLINE: Öcalan forderte in seinem Brief eine Auflösung der PKK. Dazu hat diese noch keine Stellung bezogen.  

Jasim: Nur indirekt. Die PKK hat gesagt, dass sie das Statement von Abdullah Öcalan vollumfänglich unterstützen und den kurdischen Widerstandskampf in eine neue Phase führen wolle. Eine direkte Zusage, dass man die PKK auflösen will, ist bisher nicht gefallen. 

ZEIT ONLINE: Ein nachhaltiger Frieden ist also nicht in Sicht?  

Jasim: Die ersten Schritte von kurdischer Seite sind getan, jetzt schaut man auf Ankara. Die Menschen blicken mit Vorsicht auf den Prozess, denn in der Vergangenheit hat es schon oft Friedensanstöße vonseiten der PKK gegeben, die nicht zu türkischer Einsicht geführt haben. Alle wünschen sich Frieden, am allermeisten die Kurdinnen und Kurden.  

ZEIT ONLINE: Die PKK gilt in den USA und der EU als Terrororganisation. In Deutschland bezeichnet der Verfassungsschutz die PKK als „die schlagkräftigste extremistische Organisation mit Auslandsbezug in Deutschland“. 

Jasim: Die kurdische Frage ist viel älter als die PKK, lange Zeit haben Kurden in Unterdrückung gelebt. Die Bildung der PKK und ihre Methoden in den Achtziger- und Neunzigerjahren waren eine Reaktion auf die Methoden der Türkei. Die Türkei hat damals starken Staatsterror gegen Kurden ausgeübt und gleichzeitig ihre Existenz als eigenes Volk geleugnet. Die Handlungen der PKK sind daher als eine Antwort auf die Art der Kriegsführung durch die Türkei zu verstehen. 

ZEIT ONLINE: Der Zweck heiligt also die Mittel? 

Jasim: Ich sehe den Krieg in den Neunzigerjahren als indirektes Ergebnis der Handlungen der Türkei, ohne diesen Krieg gutzuheißen. Das Ziel der Kurden war immer ein friedliches Leben und Überleben. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die bisherigen Friedensinitiativen stets von der PKK kamen und auch der Kampf gegen den IS ohne die PKK nicht möglich gewesen wäre. Hätten die Vereinten Nationen sich der kurdischen Frage überhaupt angenommen, dann wäre der Krieg vielleicht nicht nötig gewesen.  

ZEIT ONLINE: Die PKK hat in den Achtziger- und Neunzigerjahren mehrere Anschläge ausgeübt, auch auf Zivilisten.  

Jasim: Das stimmt, es gab dort terroristische Angriffe auf zivile Einrichtungen, aber auch -Angriffe des türkischen Staates, wie etwa der Ergenekon-Prozess zeigte. Der Paradigmenwechsel der PKK Ende der Neunzigerjahre hat auch damit zu tun, dass die PKK sich damit beschäftigte, welche Methoden gerechtfertigt sind. Die Konfliktführung veränderte sich daraufhin fundamental. Heute nehme ich mir deshalb die Frage heraus: Was ist denn die Definition von Terror? In Syrien ist nun Ahmed al-Scharaa an der Macht, der früher Al-Kaida angehört hat, und der Westen nimmt das hin. Dann frage ich mich, wie ernst man die eigene Definition eigentlich nimmt. Terrorlistungen sind immer auch politisch.

ZEIT ONLINE: Abdullah Öcalan sitzt seit 1999 in Haft, Berichten zufolge in fast vollständiger Isolation. Wer ist dieser Mann, der den kurdisch-türkischen Konflikt befrieden möchte?  

Jasim: Abdullah Öcalan wurde 1949 in ärmlichen Verhältnissen in der kurdischen Region im Südosten Anatoliens geboren, wo die Kurden wie andere Minderheiten grausam massakriert, aber auch verleugnet wurden. Als einer der wenigen Kurden konnte er in Ankara Politikwissenschaften studieren und ist dort mit der türkischen 68er-Bewegung in Kontakt gekommen. Dabei hat er erlebt, dass die kurdische Sache kaum eine Rolle spielte: Der Befreiungskampf der Palästinenser wurde etwa als antikolonial gesehen, der kurdische nicht. 

ZEIT ONLINE: Daraufhin gründete er 1978 die kurdische Arbeiterpartei PKK. 

Jasim: Ursprünglich war es ein marxistisch-leninistisches Projekt, um für ein unabhängiges Kurdistan zu kämpfen. Nach dem türkischen Militärputsch im Jahr 1980, bei dem viele Kurden getötet wurden, rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf der PKK gegen die Türkei aus. 1999 wurde er dann verhaftet und entwickelte sich in der Haft stärker in eine öko-anarchistische Richtung. Er ließ die PKK zunehmend als Graswurzelbewegung aufbauen. Öcalan wurde damit von einem politisch-militärischen Führer zu einem Vordenker der kurdischen Bewegung.  

ZEIT ONLINE: Wie groß ist sein Einfluss auf die kurdische Bewegung heute?  

Jasim: Sehr groß. Bei aller interner Kritik ist Öcalan international zu einer Personifikation dessen geworden, was es bedeutet, kurdisch zu sein. Als er 1999 verhaftet wurde, gab es im gesamten Nahen Osten solidarische Proteste. Auch seine Isolationshaft spiegelt für viele das kurdische Gefühl wider, auf sich gestellt zu sein. 

ZEIT ONLINE: Warum strebt er ausgerechnet jetzt eine friedliche Lösung des Konflikts an? 

Jasim: Seit 1993 hat es immer wieder Verhandlungen gegeben. Die PKK ist eine politische Organisation, sie stützt ihre Legitimation auf einen Verteidigungskampf. Es geht um die Frage, wie man politische Hebelkraft für die eigene Sicherheit erstreitet. Deshalb war Öcalan immer an Verhandlungen interessiert. 

ZEIT ONLINE: Jetzt aber ging auch Erdoğans Regierungspartei AKP auf die Kurden zu.  

Jasim: Ja, aber bisher noch nicht offiziell. Erdoğan steht unter Druck. Er ist in seiner letzten Amtszeit und würde gern weiter regieren. Stattdessen aber verstrickte sich die AKP in den letzten Jahren in viele Skandale. Die kurdische Opposition ist deshalb zuletzt stärker geworden. Gleichzeitig werden die Karten im Nahen Osten derzeit komplett neu gemischt. Mit der Schwächung Irans, der faktischen Kopflosigkeit der Hamas und der Hisbollah sowie dem Ende Assads sieht sich die kurdische Autonomie in ihren verschiedenen Gebieten mit einer neuen Sicherheitsordnung konfrontiert. Eine Anerkennung der kurdischen Autonomie in Syrien ist zum Greifen nah, aber umkämpft. Deshalb weiß Erdoğan, dass die Kurden unter Druck stehen. Aber auch Donald Trumps Vorstellungen der Weltsicherheitsarchitektur spielen eine Rolle. Es ist also ein Momentum. 

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