Man hat es schwer in Hollywood

Gleich am Anfang im Oscar-Epos steht die Freiheitsstatue auf dem Kopf. László Tóth, ein jüdischer Architekt und Überlebender des Holocaust, kommt 1947 auf einem Boot voller Einwanderer in den USA an. Mit wackligen Beinen geht er an Deck und blinzelt Richtung Kamera, gleich wird sein Boot in Ellis Island einlaufen. Tóth aber sieht orientierungslos aus, er lacht ein bisschen irre, und diese Gefühle sind offenbar ansteckend. Mit einem wilden Kameraschwenk zum Himmel nimmt auch seinem Publikum die Orientierung, als hätte irgendetwas dem Dreieinhalbstunden-Film schon nach wenigen Minuten den Boden unter den Füßen weggezogen. An der Freiheitsstatue findet die Kamera schließlich Halt, aber falschrum eben, wie eingefroren im freien Fall.

Seit der Fernsehserie im Jahr 2022 hat niemand mehr das größte Symbol US-amerikanischer Aufstiegsversprechen so clever genutzt wie der Regisseur Brady Corbet und sein Kameramann Lol Crawley für die Auftaktsequenz von . In kam die Freiheitsstatue als aufblasbare Werbefigur vor, irgendwelche Versicherungsfuzzis hatten sie vor ihr mobiles Büro gestellt, aber dort ging ihr buchstäblich die Luft aus, weshalb sie ein bisschen traurig und gleichzeitig sehr lustig im Wind wogte, wie das Publikum bei einem Coldplay-Konzert oder ein riesiges Tier, das von einem Betäubungspfeil getroffen wurde und gleich zusammenklappen wird. Die Bilder in sind ernster, kunstfertiger, aber der Effekt ist der Gleiche. Gäbe es einen Oscar für den besten , die beste Szene des Jahres, er wäre hiermit vergeben.

„Wir wollten die Freiheitsstatue auf den Kopf gestellt zeigen, weil auch unser Film eine Welt zeigt, die auf dem Kopf steht“, sagt der Kameramann Lol Crawley Ende Februar bei einem Podiumsgespräch im Museum der Academy of Motion Pictures in Los Angeles. erzählt eine beispielhafte Einwanderungsgeschichte über die Erniedrigungen, Zurückweisungen und Verletzungen, die László Tóth in einem unbarmherzigen Land erfährt, aber auch eine außergewöhnliche über einen Architekten, der sich buchstäblich zurück ins Leben baut – und dafür ein paar alte Leichen aus dem eigenen Keller einmauern muss. Zehnmal nominiert ist der Film bei der am Sonntag stattfindenden Oscarverleihung, unter anderem für Corbets Regie, Crawleys Kameraarbeit und die Leistung des Hauptdarstellers Adrien Brody.

In den Tagen vor der Zeremonie haben die Männer deshalb viele Hollywoodtermine in Los Angeles. Ein Dinner etwa in eben jenem Museum der Academy of Motion Pictures mit allen Nominierten, die nicht schwänzen, außerdem Diskussionsrunden vor Publikum und Presse. Die Bühne im Kino des Museums ist dafür mit zwei basketballergroßen Oscars dekoriert (mutmaßlich nicht aufblasbar), der ohnehin festliche Saal ist derart herausgeputzt, dass sich garantiert kein Besucher mehr traut, mit Cola oder Popcorn herumzusauen. Richtiger Award-Season-Buzz kommt beim Panel der Kameraleute mit Crawley und Edward Lachman, der für seine Arbeit am Maria-Callas-Biopic nominiert ist, trotzdem nicht auf. Ein angeranztes Programmkino im Wedding hätte auch gereicht, um dem Zuschauerandrang gerecht zu werden.

Kameraleute sind eben keine Hollywoodstars, auch wenn sich Crawley und Lachman darauf einigen, dass eine gute Kamera wie ein weiterer Teil des Schauspielensembles agieren müsse. Bezeichnend für die aktuelle Stimmung am oberen Ende der Filmbranche kommt einem das Gespräch der Männer trotzdem vor. Immer wieder kreist es um die Beschwerlichkeiten, die mit heutigen Produktionen einhergehen, Crawley zum Beispiel rechnet dem konsternierten Lachman einmal vor, dass in nur 33 Drehtagen entstehen musste, was ja fast genauso lang ist wie der ganze Film. „Wir haben ein maximalistisches Projekt mit minimalistischen Mitteln gestemmt“, sagt der Kameramann. Umgerechnet auf Hollywood heißt das: knapp zehn Millionen US-Dollar Budget.

Einen Tag später geht es wieder um diese Zahlen, diesmal in einer Runde mit deutlich größerem Publikum sowie den Produzentinnen und Produzenten der zehn Filme, die in der Königskategorie der Oscars nominiert sind. Vier Männer, die an gearbeitet haben, sitzen auf der Bühne und erinnern an ein Effizienzkommando, das strauchelnde Dax-Unternehmen gesund sparen soll. Sie erklären, wie man seine Produktionen schlank und den Fokus seiner Belegschaft hochhält, um perfekt vorbereitet das Meistmögliche aus jedem Dollar herauszuholen. Kurz darauf erzählt Tanya Lapointe, Produzentin von (Budget: 190 Millionen)dass allein die Auftaktszene ihres Films an zwölf verschiedenen Locations gedreht wurde, je nachdem, wo die Lichtverhältnisse gerade am besten waren.

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