Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (81, SPD) kritisiert nach der Wahl-Klatsche von Kanzler Olaf Scholz am Sonntag in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass sich die SPD dadurch von der gesellschaftlichen Mitte entfernt habe.
Thierse: „Die SPD hat sich in der Ampelkoalition mit allem Möglichen befasst, Selbstbestimmungsgesetz, Cannabis-Legalisierung, Heizungsgesetz. Themen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft liegen.“
In den vergangenen Jahren sei sichtbar, dass die SPD „ziemlich profillos“ und „thematisch zerfranst“ geworden sei. Die Bürger könnten nicht mehr erkennen, dass es die Partei der sozialen Gerechtigkeit und der Arbeitnehmer sei, so Thierse.
Die SPD müsse deshalb zurückkehren zu den Fragen von Arbeit, Einkommen, wirtschaftlicher Zukunft und Zukunft des Sozialstaates. „Diesen Identitätskern muss sie sichtbarer machen. Diversität, Identität, Gender et cetera sind Nebenfragen, die nicht dasselbe Gewicht haben dürfen“, stellt Thierse klar und verlangt mehr Selbstkritik der Partei.
Mit dem versprochenen Mindestlohn von 15 Euro sei die SPD im Wahlkampf nicht durchgedrungen.
Thierse warnt vor AfD-Falle
Thierses schonungslose Bewertung des SPD-Wahlergebnisses: „Das ist eine furchtbare Niederlage von geradezu historischer Dimension. Es ist das schlechteste Ergebnis unserer Geschichte. Bitter, bitter.“
Dennoch spricht sich der langjährige Bundestagspräsident für eine Regierungsbeteiligung der SPD aus – auch aus Angst vor österreichischen Verhältnissen. „Die Vorgänge in Wien sind ein abschreckendes Beispiel. Die SPD muss regieren“, fordert Thierse.
Der Frage nach der Schuld von Partei-Chef Lars Klingbeil weicht die SPD-Ikone aus: „Die Aufgabe für Klingbeil ist ziemlich bitter und schwierig, also keine Belohnung, eher eine Verurteilung.“
Der SPD werde nicht gegönnt, sich in die Oppositionsrolle zurückzuziehen und an ihrer Erneuerung zu arbeiten. Sondern sie sei gezwungen zu regieren, also wieder Kompromisse einzugehen. Und sie müsse gleichzeitig unbedingt ihr Profil schärfen.
Thierse: „Das ist eine fast mörderische Aufgabe, um die ich Lars Klingbeil wahrlich nicht beneide.“