„Die Migrationspolitik ist zu einem Wettpinkeln geworden“

ZEIT ONLINE: In den vergangenen Monaten töteten teils ausreisepflichtige Emigranten
mehrere Menschen in Deutschland. Für viele scheint seither selbstverständlich,
dass Migration ein Land gefährlicher macht. Was sagen Sie?

Hein de Haas: Natürlich ist
es entsetzlich, wenn so etwas passiert, und es muss entschieden dagegen
vorgegangen werden. Nur behaupten manche Politiker oft, durch Migration
geschähen immer mehr Verbrechen. Das stimmt nicht. Seit dem Ende der
Coronapandemie, als die Kriminalität einen historischen Tiefstand erreichte,
gibt es einen Kriminalitätsanstieg. Langfristig geht der Trend in Deutschland
und der westlichen Welt in den vergangenen Jahrzehnten aber nach unten.
Internationale und auch deutsche Untersuchungen, die versuchten, das Verhältnis
zwischen Einwanderung und Kriminalitätsrate zu
messen, konnten keinen deutlichen Zusammenhang feststellen.
Auch wenn das die Schwere dieser Angriffe nicht mindert. 

ZEIT ONLINE: Trotzdem sind unter Migranten junge Männer
in Kriminalstatistiken überrepräsentiert und potenziell häufiger zu finden.

de Haas: Das stimmt. Racial Profiling, also die verstärkte
Kontrolle von in diesem Fall nicht deutschen Menschen, verstärkt diese
Überrepräsentation. Das soll die realen Probleme nicht runterspielen. Aber um
sie zu lösen, muss man die Grundursachen verstehen. Die Forschungsliteratur,
die ich mir für mein Buch angesehen habe, zeigt, dass diese Überrepräsentation
mehrere Gründe hat. Zunächst sind junge Männer in der Kriminalstatistik
generell überrepräsentiert. Und da es unter Männern mit Migrationshintergrund
mehr junge gibt, führt schon das zu einer statistischen Überrepräsentation. Kriminalität ist aber eher ein Problem der zweiten Generation, für marginalisierte Gruppen, bei denen Integrationsprobleme zu Isolation,
Langzeitarbeitslosigkeit und genereller Perspektivlosigkeit führen. Es geht
also nicht um , sondern um
Ausgrenzung. Regierungen versäumen, Verantwortung für die Menschen zu
übernehmen, die sie ins Land lassen. Benachteiligte Jugendliche brauchen echte
Chancen auf sozialen Aufstieg durch Bildung und Arbeit. Es muss wirksamere
Präventions- und Strafverfolgungsstrategien geben.

ZEIT ONLINE: In Deutschland wird seit Monaten über die
Verschärfung der Migrationspolitik gestritten. Es werden dauerhafte
Grenzkontrollen und Zurückweisungen an der Grenze gefordert. Wie wirksam sind
solche Maßnahmen?

de Haas: Die geforderten
Grenzkontrollen sind ein gutes Beispiel dafür, wie trügerisch solche Maßnahmen
sind. Sie beschwören dieses Bild einer geschlossenen Grenze, aber komplette
Grenzschließungen in Europa sind illusorisch. Viele Untersuchungen haben
gezeigt, dass mehr Kontrollen und Zurückweisungen irreguläre Migranten oder
Geflüchtete davon abhalten werden, Grenzen anderswo zu überqueren. Ich bezeichne das in meinem Buch
als Wasserbetteffekt: Man drückt an einer Stelle runter und an einer anderen
geht es hoch. Die Migration hört nicht auf, sie wird nur umgeleitet.

ZEIT ONLINE: Was müsste man denn stattdessen tun?

de Haas: Studien haben gezeigt,
dass die Aussicht auf die
Staatsbürgerschaft die Integrationsbemühungen von Migranten verstärkt
. Außerdem braucht es ein
effizientes und schnelles Asylverfahren. Die Betroffenen müssen viel zu lange
warten. Das hat negative Auswirkungen auf diejenigen, die bleiben wollen, wie
auch auf die, die zurückkehren müssen. Je schneller man entscheidet, dass
jemand zurückmuss, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man diese
Person auch wirklich abschieben kann. Wenn Menschen für fünf bis zehn Jahre in
einem Asylverfahren stecken, wird es sehr schwierig, sie zurückzuführen, vor
allem, wenn sie Kinder haben. Aber die Migrationspolitik ist zu einem
Wettpinkeln geworden. Politiker wollen hart klingen und machen Vorschläge, die
in Wirklichkeit kontraproduktiv sind.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?

de Haas: Die größte Triebkraft
für Migration ist, langfristig gesehen, die Nachfrage nach Arbeitskräften.
Damit sind nicht nur Fachkräfte gemeint. Wer erntet das Gemüse, wer liefert
Essen aus, fährt Taxis, putzt Wohnungen, betreut Ältere und Kinder? Menschen
fliehen aber auch wegen Krieg und Unterdrückung – eine Minderheit, sie macht
weltweit nur rund sieben bis 12 Prozent der Migranten aus, aber immer noch
einen nennenswerten Anteil. Wenn man es Arbeitsmigranten jetzt erschwert, ins
Land zu kommen, werden sie trotzdem Wege finden. Was sich durch eine
restriktivere Einwanderungspolitik aber ändert, ist, dass Menschen nicht mehr
ein- und danach ausreisen werden. Wer weiß, dass es Arbeit gibt, wird
einwandern – aber nicht mehr in die Heimat zurückkehren. Weil unklar ist, ob er
es dann ein zweites Mal reinschafft. Je schwieriger es für Migranten ist,
herzukommen, desto mehr wollen sie bleiben. So war es auch bei den sogenannten Gastarbeitern. Nach dem
Anwerbestopp 1973 blieben viele, was eine Kettenmigration ihrer
Familienangehörigen auslöste. Ein weiterer Effekt ist das, was ich
Torschluss-Migration nenne. Die Menschen hören von strengeren Grenzkontrollen
und sagen sich: jetzt oder nie. Während des Brexit war das so.

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