Auf einen Kaffee mit Deutschland

Eine
lange Tafel vor einer bodentiefen Fensterfront in einem Büro in Berlin-Kreuzberg. Kaffee und Wasserkaraffen, Törtchen und Kuchen auf
weißen Tischdecken. Unterhaltungsfetzen schwirren durch den Raum, verbinden
sich zu einem gut gelaunten Gebrumme. Es ist Sonntag. Im Grunde beobachten wir
hier einen Kaffeeklatsch, wie man sich ihn vorstellt, schön bequem am
Nachmittag, Doris kommt und Ingrid auch, Tobias kann leider nicht.

Vielleicht
wird an anderen Kaffeetafeln heute, eine Woche vor der Bundestagswahl, gerade über
Gott und die Welt gesprochen, nur nicht über Scholz oder Merz, AfD und BSW, das
kann ja nicht gut gehen. Aber wir befinden uns in den Büroräumen von ZEIT
ONLINE, und Politik ist genau das, worum es heute gehen soll. Es ist die neunte
Ausgabe von .

In ganz Deutschland treffen sie an diesem Nachmittag aufeinander,
die Leserinnen und Leser von ZEIT ONLINE, der und der -Zeitung, die sich in diesem Jahr für die
Veranstaltungsreihe angemeldet haben. Es ist eine Art Datingplattform für
politischen Diskurs: Zwei Menschen mit völlig unterschiedlichen Standpunkten
werden zusammengebracht und sollen sich austauschen. Über 10.000 Teilnehmer sind
dieses Mal dabei, vom promovierten Informatiker bis zum Lokführer.

Jedes Jahr ist das ein Experiment: Können wir noch
miteinander reden? Die Gesellschaft sei tief gespalten wie nie, so liest und
hört man immer wieder. Was allerdings die „Gesellschaft“ in solcherlei pauschalen
Zeitdiagnosen genau beschreibt, bleibt üblicherweise diffus: Sind es die Bürger
und Wähler? Die Politiker? Die Menschen in den sozialen Medien? Ein Gefühl, das
viele Menschen teilen, beschreibt der längst zur Floskel gewordene Spruch
allemal: Es ist etwas faul in diesem Land. 

Heute und hier ist die Spaltung zumindest vorläufig
auf die Breite einer Kaffeetafel reduziert. Im Büro sitzen die Teilnehmer und
tun das vermeintlich Unwahrscheinliche: miteinander reden. Bei der Wahl der Themen
ist man keineswegs zimperlich: Migration, Waffenlieferungen, Schuldenbremse, es
wird auch diskutiert, ob man Bürgergeldempfängern die Bezüge kürzen soll. „Ich
will nicht, dass die einfach nur auf der faulen Haut liegen – und mir auch
noch auf der Tasche“, sagt eine Frau im schwarzen Shirt, eine Teilnehmerin aus Ostdeutschland, die
sich lange Jahre mit „miserabel bezahlten“ Jobs durchhangelte, wie sie erzählt,
bevor sie sich mit 40 in Eigeninitiative noch einmal umschulen ließ. „So denke
ich auch“, erwidert ihre Gesprächspartnerin mit goldener Kette, „aber ich denke
dabei besonders an Milliardäre.“

Es ist ein ziviler Austausch, jeder Austausch ist
hier zivil, und das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass nur Diskutanten aus dem vergleichsweise homogenen Pool der Leser von ZEIT
ONLINE geladen sind. Es melden sich vor allem diejenigen an, die eh redewillig sind. Wer am Austausch gar nicht interessiert ist, womöglich gar keine Zeitung mehr liest, erscheint hier natürlich nicht. Dennoch sind da Menschen wie der Mann, der sein Leben lang SPD gewählt
hat und nun bei der Bundestagswahl erstmals sein Kreuz bei der AfD setzen
möchte. Warmherzig diskutiert er mit einer Frau, deren Meinung klar ist: „Wer
die AfD wählt, wählt Nazis.“ Er winkt ab: „Es gibt in jeder Partei Idioten.“
Auch hier verläuft die Diskussion ruhig und gemessen. Am Ende verabschiedet er
sich von seine Gesprächspartnerin: „Waltraud, es hat mir Spaß gemacht!“

So einfach kann das sein. Fast kommt man hier, an
der langen Tafel, auf den Gedanken, dass Deutschland womöglich gar keine Krise
des Diskurses heimsucht, sondern eine der Diskursräume. Während hier mit viel planerischem
Aufwand ein Raum geschaffen wird, in dem Widerspruch nicht sofort
in Eskalation mündet, gehen anderswo genau jene Orte ein, an denen früher völlig
selbstverständlich die unterschiedlichsten Lebensrealitäten
aufeinanderprallten: Cafés, Kneipen, Vereinsheime oder Bibliotheken sind in
vielen Städten verschwunden, gerade in den Metropolen wurden sie häufig weggentrifiziert
oder sind schlicht unbezahlbar geworden. Wo einst zufällige Begegnungen möglich
waren, steht heute ein Smashburger-Pop-up-Store, leider nur to go.

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