Der Wirtschaftsstandort Deutschland steht am Pranger. Nahezu täglich beklagen Unternehmen, Verbände und Ökonomen schlechte Rahmenbedingungen. Zu viel Bürokratie und Regulierung lautet der Hauptvorwurf, gleichzeitig zu hohe Kosten für unter anderem Energie und Personal, eine bröckelnde Infrastruktur trotz vergleichsweise hoher Steuern und fehlende Planungssicherheit. „Der Standort Deutschland kommt nicht von der Stelle“, kritisiert Peter Leibinger, der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). „Die Unternehmen investieren nicht oder viel zu wenig im Inland.“
Nicole Grünewald spricht gegenüber „Business Insider“ bereits von einer Deindustrialisierung und macht explizit die Ampel-Regierung dafür verantwortlich. „Mehr als die Hälfte unserer Unternehmen sagt mittlerweile, dass sie kein Vertrauen mehr in die Politik haben“, sagt die Präsidentin der Industrie- und Handelskammer zu Köln, die mit rund 150.000 Mitgliedsunternehmen die viertgrößte im gesamten Bundesgebiet ist. „Das hatten wir noch nie: Die Wirtschaft begreift die Politik als Risikofaktor für den Standort Deutschland.“
Harte Worte – die im Ausland nicht überall nachvollzogen werden. Jedenfalls nicht bei mittelständischen Unternehmen in Großbritannien. Deren Blick auf Deutschland ist nach wie vor positiv. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstituts Stack Data Strategy im Auftrag des Kreditanbieters Iwoca. Befragt wurden die Chefs von 500 kleinen und mittelgroßen Unternehmen – und die sehen die Bundesrepublik unter den zehn größten Volkswirtschaften der Welt durchaus als attraktiven Wirtschaftsstandort mit hoher Lebensqualität und politischer Stabilität.
Fabian Platzen kann das verstehen. „In Deutschland gibt es die Tendenz, sich selbst schlechter wahrzunehmen“, sagt der Geschäftsführer von Iwoca Deutschland und nennt den Begriff „German Angst“. Ja, es gebe Standortprobleme. „Trotzdem ist der Markt weiterhin stabil und attraktiv und bietet Chancen.“ Was zum Beispiel künftige Wachstumsmöglichkeiten betrifft, sehen die befragten Unternehmer von der Insel bei den Top-10-Nationen lediglich Kanada vor Deutschland.
Beim Thema politische Stabilität wiederum landet die Bundesrepublik auf Platz drei, knapp hinter Japan und Großbritannien selbst. Und auch bei den Möglichkeiten zum Vermögensaufbau steht Rang drei zu Buche, hier liegen die USA und Großbritannien vorn. Geht es um die beste Unterstützung für Unternehmen, sehen die britischen Mittelständler Deutschland und China gleichauf, auch hier sehen sie die USA und Großbritannien vorn.
Dass Iwoca britische Betriebe hat befragen lassen, liegt an der Herkunft des Fintech-Unternehmens, das 2011 von einem Deutschen und einem Briten in London gegründet wurde und mittlerweile in beiden Ländern aktiv ist. In Großbritannien ist das Geschäft mit Schnellkrediten dabei deutlich ausgeprägter – weil es dort deutlich weniger Konkurrenz für die Kreditvergabe gibt, wie Platzen erklärt.
„Die wirtschaftliche Situation stabilisiert sich“
Hierzulande konkurriert Iwoca – der Firmenname ist die Abkürzung für „Instant Working Capital“, also übersetzt „sofortiges Betriebskapital“ – mit Hunderten Sparkassen und Volksbanken. Iwoca verspricht dabei schnelles Geld in einer Größenordnung von 1000 Euro oder Pfund bis hin zu einer Million, teils in Minuten. Diesen Service lässt sich der Kreditgeber ohne Banklizenz aber mit einem deutlich höheren Zins auch entsprechend bezahlen.
Durchschnittskunden sind kleine Unternehmen mit weniger als 20 Mitarbeitern und einem einstelligen Millionenumsatz. Und dort scheint sich die Stimmung aufzuhellen. „Trotz der aktuellen Herausforderungen sehen wir positive Signale: Die wirtschaftliche Situation stabilisiert sich und Unternehmen investieren wieder“, sagt Deutschland-Chef Platzen gegenüber WELT.
„Als Finanzierungspartner erleben wir derzeit täglich, dass Unternehmen auch in schwierigen Zeiten Wachstumschancen suchen – und finden.“ Die Ausfallquoten der Direktkredite seien jedenfalls vergleichsweise gering. „In Deutschland liegt der Wert dabei niedriger als in Großbritannien.“ Auch das spreche für wirtschaftliche Stabilität.
Platzen hat ebenfalls den Blick von außen. Denn der Manager lebt in London. Und dort seien das deutsche Bildungssystem ebenso wie das Gesundheitssystem hoch angesehen. „Die Kritik in Deutschland ist vielfach gerechtfertigt. Wenn man andere Systeme im Ausland sieht, relativiert sich aber vieles.“ In der Umfrage loben die britischen Unternehmer dementsprechend auch die Lebensqualität.
Wären sie nicht schon in Großbritannien tätig, würden zwölf Prozent der befragten Unternehmer ihr Geschäft am liebsten in Deutschland führen, zeigt die Studie, die nicht angeleitet ist und daher eher auf Wahrnehmungen, denn auf Erfahrungen beruht. „Sie sehen beispielsweise nicht, wie wenig digital die öffentlichen Verwaltungen in Deutschland sind.“
Beim Blick auf beide Volkswirtschaften gibt es aber Ähnlichkeiten, etwa was die Höhe der Inflationsrate betrifft oder die Entwicklung bei Unternehmensinsolvenzen. Beim Bruttoinlandsprodukt dagegen hat sich Großbritannien 2024 aus dem Tief herausgekämpft, während Deutschland in der Rezession verharrt. Und auch die Arbeitslosenquote ist auf der Insel geringer als hierzulande.
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet unter anderem über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie.