Ramstein – Er ist der Chef des mächtigsten Militärbündnisses der Welt: Nato-Generalsekretär Mark Rutte führt die Alliierten durch die gefährlichste Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges. BILD traf den Niederländer auf dem Rollfeld des US-Stützpunkts in Ramstein zum exklusiven Interview.

BILD: Herr Generalsekretär, wird an unseren Schulen bald Russisch unterrichtet, wenn wir nicht massiv aufrüsten?

Mark Rutte: „Das müssen wir verhindern! Ganz einfach, indem wir mehr Geld für die Rüstung ausgeben und mehr produzieren. Es wird keinen Russisch-Unterricht geben, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die wir aber dringend in diesem Jahr treffen müssen.“

US-Präsident Donald Trump fordert von den europäischen Nato-Mitgliedern, dass sie fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung stecken. Hat er recht? Zahlen wir zu wenig?

„Trump hatte mit dieser Forderung allgemein schon in seiner letzten Amtszeit recht. Und dank dieses Vorstoßes haben wir mehr investiert. Seit 2014 haben die europäischen Verbündeten und Kanada über 600 Milliarden Dollar für die Verteidigung ausgeben. Mehr als zwei Drittel der Nato-Partner geben mittlerweile mehr als zwei Prozent für die Rüstung aus – übrigens auch Dank Trump. Aber: Wir müssen noch mehr investieren und die Verbündeten werden in den kommenden Monaten entscheiden, wie wir das genau bemessen. Ich kann Ihnen aber eins versichern: Es wird viel, viel, viel mehr sein als zwei Prozent.“

Von diesem Ziel wäre Deutschland aktuell weit entfernt.

„Zuerst muss man sagen: Die Deutschen haben seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine viel richtig gemacht. Sie schicken eine Brigade dauerhaft nach Litauen und unterstützen die Ukraine mit Hilfsmitteln wie kein anderer europäischer Nato-Staat. Da sind sie Nummer eins in Europa. Aber: Angesichts der Größe der deutschen Wirtschaft wollen wir natürlich, dass sie noch viel mehr tun. Und ich bin überzeugt: Für Deutschland mit seinen fantastischen Rüstungsunternehmen und seiner Innovationskraft bedeutet das, dass sie die Produktion steigern müssen. Deutschland muss die Rüstungsausgaben erhöhen, das wird notwendig sein.“

BILD: Was genau erwarten Sie von Deutschland, damit es in Zukunft ein Nato-Partner ist, auf den man sich militärisch verlassen kann?

„Deutschland muss den Weg, den es eingeschlagen hat, konsequent weitergehen. In Europa und in der Ukraine. Deutschland muss mehr ausgeben und mehr produzieren. Das wird in den nächsten Monaten ganz klar die Debatte in vielen europäischen Ländern sein. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Wir müssen uns auf Krieg vorbereiten. Das ist der beste Weg, um Krieg zu vermeiden.“

Was passiert, wenn Deutschland nicht zahlt? Müssen wir dann selbst für unsere Sicherheit aufkommen? Wie verlässlich ist Amerika noch unter Trump?

„Die Nato muss als Bündnis zusammenhalten. Aber die Last muss zwischen Europa, Kanada und den USA fair verteilt werden. Damit die Amerikaner nicht zu viel zahlen und wir nicht zu wenig. Noch mal: Das Ziel muss sein, dass alle Staaten, einschließlich der USA, mehr produzieren. Denn nicht nur die Situation mit Russland ist gefährlich, auch die Chinesen bauen ihre militärischen Fähigkeiten enorm aus.“

Sie fordern seit ihrem Amtsantritt ein „War Mindset“. Müssen die Deutschen „kriegstüchtig“ im Kopf werden? Wie soll das aussehen?

„Ich weiß, dass wir uns alle nach Frieden sehnen. Aber stellen Sie sich vor, die Ukraine verliert diesen Krieg. Dann hätten wir Frieden unter russischer Besatzung. Das wäre eine schreckliche Situation. Wir müssen immer dazu in der Lage sein, uns gegen Russland zu verteidigen. Also nehmen Sie die Politiker in die Pflicht, die Banken, damit endlich mehr in die Verteidigungsindustrie investiert wird. Das ist entscheidend.“

Müssen wir uns daran gewöhnen, dass in Europa Krieg ist?

„Nein! Aber dann dürfen wir keine Schwäche zeigen. Sonst könnte Russland etwas versuchen. Und zwar so, wie sie es in der Ukraine getan haben.“

Verlieren wir den Krieg gegen Russland gerade schon in der Ukraine?

„Die Front bewegt sich in die falsche Richtung. Aber zu welchem Preis? Die Russen zahlen dafür mit 1000 bis 1500 Menschen pro Tag, die sterben oder schwer verwundet werden. Und trotzdem erreichen die Russen ihre Ziele nicht. Und unsere Aufgabe ist, dass sie ihre Ziele niemals erreichen. Also nein: Die Ukraine verliert nicht. Und wir müssen sie dabei unterstützen, in eine Position der Stärke zu kommen.“

Schicken wir die Ukraine in den langsamen Tod? Die Russen schießen mehr, Taurus-Marschflugkörper wollen wir nicht liefern.

„Was die Lieferung bestimmter Waffensysteme angeht: Das ist nun mal eine nationale Entscheidung. Ich ermutige die Alliierten grundsätzlich, Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, damit die Ukrainer die maximale Power zur Verteidigung haben. Und da sind die USA die Nummer Eins und Deutschland die Nummer Zwei.“

Ist Frieden mit den Russen in Zukunft überhaupt möglich? Laufen die Verhandlungen mit Putin schon?

„Lasst uns nicht naiv sein, was Putin angeht. Man muss sich nur anschauen, was in Butscha passiert ist. Wenn also ein Friedensabkommen geschlossen wird, muss es nachhaltig sein. Wir müssen sicherstellen, dass er nie, nie wieder auch nur einen Quadratkilometer der Ukraine erobern kann.“

Und wie soll das gehen?

„Schritt eins: Wir müssen dafür sorgen, dass die Ukraine in der bestmöglichen Position ist. Wir müssen sie weiter mit Waffen unterstützen und ihre Soldaten ausbilden. Und wenn sie eines Tages über Frieden verhandeln wollen, müssen sie Putin an den Tisch holen. Ich kann Ihnen aber jetzt nicht genau beschreiben, wie diese Gespräche verlaufen werden. Ich habe schon Ideen, wie diese Komposition aussehen könnte. Aber wir wollen Putin nicht klüger machen, als er ohnehin schon ist. Daraus machen wir ein kleines Geheimnis. Nur das Ende steht fest: Putin wird es danach nie wieder versuchen.“

Noch mal zurück zu Trump: Der US-Präsident schließt militärische Mittel nicht aus, um an Grönland zu kommen. Könnte das das Ende der Nato sein?

„Nein! Aber wenn es um die die Verteidigung in der Arktis geht, hat Trump recht. Was ich wirklich gut finde ist, dass der Premierminister von Dänemark sofort Gespräche mit Präsident Trump geführt hat. Im Wesentlichen ging es dabei um die hohe Dringlichkeit der Verteidigung im hohen Norden. Da geht es nicht nur um Grönland, sondern auch um Island, Norwegen, Finnland, Schweden und Kanada. Wir müssen alle zusammenarbeiten, um die Gebiete zu schützen. Und da hat Trump recht.“

Läuft in der Ostsee schon ein verdeckter Krieg gegen die Nato?

„Es ist kein Krieg, aber es ist auch keine hybride Kriegsführung, das wäre zu harmlos. Nennen wir es beim Namen: Das sind destabilisierende Aktionen der Russen, Anschläge auf unsere kritische Infrastruktur. Und es ist keinesfalls so, dass sie nicht in der Lage wären, ihre Schiffe zu steuern. Aber wir beobachten nicht nur ganz genau, was sie da tun. Wir reagieren auch auf alles. Und da haben wir in den letzten Wochen mit Schiffen, Flugzeugen, Drohnen und sogar künstlicher Intelligenz massiv unsere Präsenz in der Ostsee verstärkt.“

2029 soll Putin dazu in der Lage sein, die Nato anzugreifen. Ist es eine gute Idee, sich mit uns anzulegen?

„Darüber sollte Putin keine einzige Sekunde nachdenken. Das hätte verheerende Konsequenzen für ihn. Er gibt jetzt vierzig Prozent des Staatshaushalts für die Verteidigung aus, das sind zehn Prozent des russischen Nationaleinkommens. So viel müssen wir gar nicht ausgeben, aber eben viel mehr als zwei Prozent. Denn unsere Wirtschaft ist zwanzigmal größer als die Russische. Wir brauchen zusätzliche Produktionslinien, zusätzliche Schichten, mehr Munition, mehr Leopard-2-Panzer, mehr F-35-Kampfjets und mehr Waffen im gesamten Nato-Territorium – von Amerika bis in die Türkei. Mehr Geld, mehr industrielle Produktion; dann können wir es schaffen, ihn abzuschrecken. Dann wird er es niemals wagen, uns anzugreifen.“

Ist das ein Versprechen?

„Ja! Aber das entscheidet sich in Europa. Und uns bleibt nicht mehr viel Zeit!“