Fünf Jahre Brexit – Zwei Versprechen der Befürworter erfüllten sich nie

Im Palais d’Egmont in Brüssel kommen am Montag die 27 Staatschefs der EU-Mitgliedsstaaten zu einem informellen Treffen zusammen. Zu dem Termin stößt ein Gast dazu: Der britische Premierminister Keir Starmer ist eingeladen, um über Sicherheits- und Verteidigungsfragen zu diskutieren. Seit dem Brexit ist Starmer damit der erste britische Regierungschef, der an einem Treffen der Chefs der Staatengemeinschaft teilnimmt.

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – nach 46 Jahren Mitgliedschaft – jährt sich an diesem Freitag zum fünften Mal. Nach einem knappen Ausgang des Referendums im Sommer 2016, das den Weg zum Brexit ebnete, zogen zunächst tiefe Gräben durch Politik und Gesellschaft. Für die Wirtschaft waren damals erhebliche Schäden prognostiziert worden.

Heute ist klar: Die schlimmsten Vorhersagen haben sich kurzfristig nicht erfüllt. Eine Krise direkt nach der Abstimmung, die das Land in die Rezession stürzen würde, hatte das Finanzministerium vorhergesehen. Sie ist ausgeblieben. Unternehmen und Verbraucher machten relativ unbeirrt weiter, die Beschäftigung blieb hoch, das Wachstum zeigte nach dem Referendum keinen nennenswerten Dämpfer. Das lag aber auch daran, dass der Brexit erst knapp vier Jahre implementiert wurde.

Eine Reihe von Beobachtern hätten versucht, daraus den Schluss zu ziehen, dass auch die längerfristigen Prognosen diskreditiert seien, sagte Jonathan Portes, Professor für Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft am King’s College London. „Doch die langfristigen Vorhersagen zu den schädlichen Wirkungen von Beschränkungen bei Handel und Zuwanderung hat das nicht ungültig gemacht.“

Eindeutige Bestandsaufnahme ist schwierig

Denn eindeutig ist längst auch, dass die britische Wirtschaft mit einer Reihe von Dämpfern zu kämpfen hat, die der Brexit hervorgerufen hat. Der Außenhandel und die Investitionstätigkeit gehören zu den vorrangigen Beispielen. Weitreichende Vorteile der Entscheidung, die sich viele Befürworter versprochen hatten, sind bisher ausgeblieben.

Eine eindeutige Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Folgen ist schwierig, ist sich Portes mit den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen einig. Zu viele andere Faktoren haben die britische Volkswirtschaft in der Zwischenzeit beeinflusst: die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, der Energiepreisschock, erhebliche Ausschläge der Inflation.

Abschätzungen zu den Effekten haben daher eine erhebliche Spannbreite. Ein sogenanntes „Doppelgänger-Modell“, das die Entwicklung mit dem gewichteten Durchschnitt einer Reihe vergleichbarer Volkswirtschaften vergleicht, kommt auf eine Abschwächung des Bruttoinlandsprodukts um drei bis 6,7 Prozent.

Das Office for Budget Responsibility, eine britische Behörde für Budgetverantwortung, schätzt den Dämpfer auf vier Prozent. Ein großer Teil sei bereits erfolgt, in vollem Umfang soll der Effekt 15 Jahre nach dem Austritt durchgeschlagen haben.

Deutlich verändert hat der Schritt die Struktur des Außenhandels. Ein „Global Britain“, von dem Ex-Premierminister Boris Johnson in der Hoffnung auf neue, attraktive Absatzmärkte außerhalb des europäischen Kontinents schwärmte, hat sich nicht materialisiert.

Exporte legt weit weniger als im OECD-Durchschnitt zu

Seit 2019 ist der Wert der Warenexporte um lediglich 0,3 Prozent im Jahr gewachsen. Großbritannien ist damit weit hinter dem Durchschnitt der OECD-Staaten von 4,2 Prozent zurückgeblieben. Zum Jahresende 2024 lag das Volumen des Warenhandels um 9,4 Prozent unter dem Wert von 2019. „Den weltweiten Post-Covid-Boom hat Großbritannien nur von der Seitenlinie beobachtet“, urteilte Emily Fry, Volkswirtin bei der Denkfabrik Resolution Foundation.

Neue Ziele konnten dabei nicht in die Rolle des entscheidenden Absatzmarktes schlüpfen. Die EU bleibt mit Abstand der wichtigste Partner, der gut die Hälfte der britischen Güter abnimmt.

Zusätzlicher administrativer Aufwand spielt seit dem Austritt aus der Zollunion und dem Binnenmarkt eine erhebliche Rolle. 41 Millionen Zollerklärungen für den Handel mit der EU sind 2023 bei den zuständigen britischen Behörden eingegangen.

Kleinere und mittlere Unternehmen, die mit dieser Art von Aufwand in der Vergangenheit nicht konfrontiert waren, hat der Brexit daher besonders heftig getroffen. 16.400 Unternehmen haben angesichts der zusätzlichen Kosten seit dem Inkrafttreten der neuen Regeln Ausfuhren in die EU komplett eingestellt, zeigt eine Analyse der London School of Economics.

Ganz anders sieht die Entwicklung bei Dienstleistungen aus. Filmproduktionen und Finanzdienstleistungen, Rechtsberatung und Programmierung – diese Arten von Exporten haben in den fünf Jahren seit 2019 um 7,5 Prozent zugelegt und damit deutlicher als der OECD-Durchschnitt von 6,1 Prozent.

Investitionen bewegen sich seitwärts

Der Boom kommt, obwohl der gesamte Dienstleistungssektor im Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU weitgehend ausgespart ist. Die Vereinbarung zu Erleichterungen beim Austausch zwischen dem Vereinigten Königreich und Europäischer Union konzentriert sich, wie die meisten Freihandelsabkommen, vorrangig auf den Warenhandel.

Allerdings spielt die EU als Ziel auch längst nicht die wichtigste Rolle. „Der Dienstleistungshandel ist stark auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet“, sagte Stephen Hunsaker, Volkswirt bei der Denkfabrik UK in a changing Europe (UKICE).

Bei Investitionen gehörte Großbritannien bereits vor dem Brexit zu den Schlusslichtern unter den G-7-Staaten. Doch die Unsicherheit, die die neue Lage verursacht hat, hat nicht geholfen. Investitionen von Unternehmen hatten nach der Finanzkrise merklich zugelegt. Seither bewegen sie sich nur noch seitwärts, die Volumina im zweiten Quartal 2024 entsprachen denen des Vergleichszeitraums 2016. Auch ausländische Direktinvestitionen stagnieren seither.

Besonders deutlich werden die Unterschiede bei der Finanzierung großer Infrastrukturprojekte. Der Verlust des Zugangs zur European Investment Bank (EIB) sei eine der maßgeblichen Folgen des Brexits, sagte Hunsaker. In der Vergangenheit habe sie eine zentrale Rolle gespielt, zum Beispiel bei der Finanzierung des Kanaltunnels, von Windfarmen vor der Küste Schottlands oder der Elizabeth Line, einer neuen U-Bahn-Linie vom Flughafen Heathrow durch die Londoner Innenstadt bis Richtung Kanalküste. Bei 6,4 Milliarden Pfund (7,6 Milliarden Euro) in heutigen Preisen lagen die durchschnittlichen Finanzierungszusagen zwischen 2009 und 2016.

Zwar hat die Regierung inzwischen Alternativen wie die UK Infrastructure Bank aufgebaut. „Die Lücke bleibt aber erheblich, und sie stellt die Wachstumspläne der Labour-Regierung vor signifikante Herausforderungen“, sagte Hunsaker. 2023 deckten die einheimischen Förderbanken nur 42 Prozent des Volumens ab, das die EIB 2016 ausgereicht hatte. Im zentralen Bereich Infrastruktur war es ein Fünftel.

Vollkommen anders als erwartet hat sich die Zuwanderung entwickelt. Die „Kontrolle über die Grenzen“ zurückzuerlangen, gehörte zu den zentralen Argumenten der Brexit-Befürworter. Viele Beobachter hatten deutlich schrumpfende Zahlen erwartet.

Die Zuwanderung aus der EU ist seit dem Brexit negativ, mehr EU-Bürger verlassen das Land als neue hinzukommen. Im bisherigen Spitzenjahr, den zwölf Monaten bis Mitte 2023, sind aber im Rahmen des neuen Visums-Regimes über 900.000 Zuwanderer ins Land gekommen. Vor dem Brexit hatten die Werte – trotz regelmäßiger Beteuerungen, sie zurückzuführen – zwischen 200.000 und 300.000 gelegen.

Wie geplant wurde die Freizügigkeit ersetzt durch ein Punkte-basiertes Visa-System, das direkt auf fehlende Kapazitäten im Arbeitsmarkt reagiert. Ärzte und Pflegepersonal, Bauingenieure, Bergbau-Experten, IT-Spezialisten, aber auch Köche und Braumeister gehören seither zu den Berufen, die eine Arbeitserlaubnis ermöglichen.

Weniger Pflegekräfte aus der EU als 2019

Im staatlichen Gesundheitssystem NHS sind beispielsweise trotz eines erheblichen Personalaufbaus heute weniger EU-Pflegekräfte tätig als 2019. Die händeringend gesuchten Pflegerinnen und Pfleger kommen inzwischen vor allem aus Indien, den Philippinen oder aus Nigeria.

Zu den oft genannten Vorteilen des Brexits gehörte auch mehr Freiheit bei der Ausgestaltung der Regulierung. Zu einem damals gern beschworenen „Singapur an der Themse“ ist London bis heute nichts geworden. In regulatorischer Hinsicht habe sich bisher kaum etwas verändert, sagte Joël Reland von UKICE. Die EU bleibt der wichtigste Handelspartner, für Unternehmen ist es daher sinnvoll, den dortigen Regeln zu folgen, um den Absatzmarkt nicht zu verlieren.

Neue EU-Vorschriften übernimmt das Vereinigte Königreich aber nicht. Damit werden passive regulatorische Abweichungen zunehmend zum Thema, erläuterte Reland. Sie könnten vor allem Kosten verursachen: Wer exportiert, muss dann bald zwei unterschiedliche Produktstandards beachten.

Wie geht es weiter? Starmer hat einen „Reset“ der Beziehungen angekündigt, regelmäßiger Austausch soll wieder institutionalisiert werden. Doch Details bleiben spärlich. Außer dem Termin am Montag ist für den Frühling ein Gipfel von EU und Vereinigtem Königreich geplant, für eine Bestandsaufnahme der Beziehungen seit dem Brexit und mögliche Anpassungen.

Die Möglichkeiten für eine engere Zusammenarbeit bleiben überschaubar. Die Labour-Regierung betont immer wieder, dass für sie weder eine neuerliche Mitgliedschaft in der EU, noch ein Beitritt zu Binnenmarkt oder Zollunion infrage kommt.

EU wünscht sich ein Youth Mobility Program

Im Wahlkampf im vergangenen Sommer hat die EU in den Programmen der Parteien keine Rolle gespielt. Im politischen Diskurs wird der Brexit kaum noch erwähnt. Und auch im großen, langfristigen Wachstumsprogramm für die Insel, das Schatzkanzlerin Rachel Reeves am Mittwoch vorgestellt hat, wurde dem wichtigsten Handelspartner EU keine Rolle eingeräumt.

Auch auf EU-Seite fehlt es an Anreizen für eine Neuauflage der zähen Gespräche mit Großbritannien. Mit dem Funktionieren des Handelsabkommens ist die europäische Seite im Großen und Ganzen zufrieden.

Ihr dringendster Wunsch wäre ein Youth Mobility Program, das jungen Menschen befristet einen Arbeits- oder Ausbildungsaufenthalt in Großbritannien erlauben würde. Doch das Muster wird von britischer Seite regelmäßig brüsk abgelehnt, mit der Begründung, es bringe die Freizügigkeit durch die Hintertür zurück.

In der Bevölkerung ist die Stimmung längst nicht so skeptisch. 55 Prozent wünschen sich eine engere Zusammenarbeit mit der EU, zeigen Zahlen des European Council on Foreign Relations. Nur zehn Prozent bevorzugen mehr Abstand als heute. 58 Prozent der Briten halten den Brexit heute für einen Fehler, so das National Centre for Social Research. Auch einen demografischen Faktor macht der Meinungsforscher John Curtice hier aus. Während ältere Brexit-Befürworter versterben, seien jüngere Menschen, die 2016 noch nicht wählen konnten, EU-freundlicher.

Eine Grundlage für eine engere Zusammenarbeit gebe es trotz der Stimmungslage in der Bevölkerung am ehesten bei Sicherheit und Verteidigung, sind sich die meisten Beobachter einig. Bei Wirtschaft und Handel werde sich dagegen wenig tun, erwartete Reland. „Ich erwarte mehr warme Worte, aber nicht viel Fortschritt.“

Claudia Wanner schreibt von London aus für WELT über die Wirtschaft in Großbritannien.

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