Die Spitzenvertreter der norddeutschen Wirtschaft warnen davor, undifferenziert über das Thema Migration zu streiten: „Es wird derzeit alles in einen Topf geworfen, illegale Migration, politisch motivierte und solche, die wir für unsere Wirtschaft dringend brauchen“, sagte Norbert Aust, Präses der Handelskammer Hamburg, am Donnerstag. Hintergrund dafür sind auch die derzeit harten Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition im Bundestag über eine Verschärfung der Zuwanderungskontrollen nach Deutschland.
Mehrere Mordanschläge, begangen von Menschen mit Migrationshintergrund, hatten die politische Debatte in den vergangenen Monaten erheblich verschärft. Ein gebürtiger Saudi-Araber war mit einem Wagen vor Weihnachten bei einer Amokfahrt über den Weihnachtsmarkt von Magdeburg gerast. Ein gebürtiger Afghane hatte vergangene Woche in einem Park in Aschaffenburg ein zweijähriges Kind und einen Mann erstochen. Beide Mordverdächtige waren den Behörden zuvor wegen Gewaltandrohungen und Gewalttaten bereits bekannt.
Die Handelskammer Hamburg stellte am Donnerstag gemeinsam mit der Handwerkskammer Hamburg und dem Wirtschafts-Dachverband UVNord ihre Forderungen an die Politik vor den Wahlen zum Bundestag (23. Februar) und zur Hamburgischen Bürgerschaft (2. März) vor. Die Zuwanderung in den (nord-)deutschen Arbeitsmarkt ist dabei ein Aspekt, mit Blick auf den zunehmenden Mangel an Nachwuchs- und Fachkräften. Nach aktueller Einschätzung der Kammern und der Verbände werden in Hamburg bis zum Jahr 2040 rund 200.000 Fachkräfte fehlen. „Insbesondere bei der Dualen Berufsausbildung werden wir dann ganz erhebliche Einschränkungen haben“, sagte Handwerkskammer-Präsident Hjalmar Stemmann.
Seit der großen Migrationsbewegung nach Deutschland im Jahr 2015 hatte sich die regionale Wirtschaft dafür engagiert, Zuwanderer auszubilden und sie schnell in den Arbeitsmarkt und in die Unternehmen zu integrieren. „Wir hatten nach 2015 einen deutlich messbaren Aufschwung bei den Ausbildungszahlen, auch wegen der Migration“, sagte Stemmann. „Doch inzwischen werden viel zu viele Schleifen gedreht, bis Zuwanderer in den Arbeitsmarkt kommen. Wir hätten einige der Debatten der vergangenen Tage nicht, wenn wir die Menschen schneller in den Arbeitsmarkt bekämen. Sie müssen dafür kein oberperfektes Deutsch sprechen.“
„Wir erleben eine Eskalation, eine immer stärkere Vermischung bei den Debatten um legale und illegale Migration“, sagte Philipp Murmann, Präsident des UVNord. „Es dauert zu lange, Menschen aus der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu bringen, es gibt zu viele Hürden und zu viele Menschen, die dabei mitreden.“
Die Spitzenorganisationen der norddeutschen Wirtschaft fassten am Donnerstag erneut ihre Forderungen an die Politik zusammen, die sie teils seit Jahren erheben. Das Format dafür ist die gemeinsame Erklärung „Wirtschaft am Scheideweg – wie ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel Hamburgs Zukunft sichern kann“. Der Standort Deutschland – und damit auch Hamburg – laufe Gefahr, „international abgehängt zu werden. Während andere Industriestaaten wachsen, stagniert die deutsche Wirtschaft“, heißt es in dem Papier.
Zu den Forderungen der Wirtschaft zählt eine drastische Reduktion der Bürokratie, eine dauerhafte Erneuerung der Infrastruktur und weit höhere Investitionen in Bildung. „Damit die überbordende Bürokratie nicht weiter ein Hemmschuh ist, sollte für wirtschaftliches Handeln das Prinzip der Genehmigungsfiktion gelten – wird innerhalb einer festgelegten Frist keine Entscheidung getroffen, gilt die Genehmigung automatisch als erteilt“, sagte Aust. „Werden bürokratische Hemmnisse abgebaut, erleichtert das auch die Entwicklung von Zukunftstechnologien, denn mit Innovationen sichern wir den zukünftigen Wohlstand des Standorts.“
Besondere Kritik übten die Wirtschaftsvertreter an den ausufernden Dokumentationspflichten, vom Fahrtenbuch in Firmenfahrzeugen bis hin zum Lieferkettengesetz. „Es erscheint so, als dass die Politik der Wirtschaft immer stärker misstraut“, sagte Handelskammer-Präses Aust. „Unternehmen müssen immer umfangreicher nachweisen, dass sie etwas nicht getan oder dass sie es richtig getan haben. Früher sind wir von der Unschuldsvermutung ausgegangen, auch das war Teil der unternehmerischen Freiheit in Deutschland.“
Handwerkskammer-Präsident Stemmann beschrieb Möglichkeiten, um das Potenzial an Arbeitskräften besser zu nutzen: „Duale Ausbildung stärken, Prozesse für die Integration von Fachkräften aus dem Ausland verschlanken sowie neue Möglichkeiten für eine höhere Erwerbsbeteiligung von Zugewanderten und Frauen schaffen“, sagte er. „Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiger Hebel, aber auch das beherzte Nutzen von Künstlicher Intelligenz und Automatisierung kann zur Entspannung beitragen.“
UVNord-Präsident Murmann erinnerte daran, dass die Erneuerung der Infrastruktur – auch in der Metropolregion Hamburg – jahrzehntelang vernachlässigt worden sei: „Die Versäumnisse beim bedarfsgerechten Ausbau und dem Unterhalt der Infrastruktur müssen dringend nachgeholt werden, etwa der Bau der A26-Ost, die Instandhaltung der Brücken über Norder- und Süderelbe sowie eine neue Köhlbrandquerung innerhalb der 2030er-Jahre. Der Zugang zum Hamburger Hafen hat nationale Bedeutung und muss entsprechend von Bund und Land sichergestellt werden.“
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Zu seinen Themen zählt die Berichterstattung über die Verbände und Kammern in der Region.