Der CDU wäre das auch passiert

Am Abend, als in Thüringen und Sachsen gewählt wurde, hat es mich zufällig in die Stadt verschlagen, in der ich studiert hatte: nach Leipzig. Nach dem Kirchenkonzert, das ich besuchte, stand ich mit meinen alten Bekannten und Freunden aus gemeinsamen Leipziger Tagen zusammen. Neben dem üblichen Enthusiasmus über das Konzertprogramm gab es nur ein Thema: den Ausgang der Landtagswahlen. Niemand von meinen Freundinnen und Freunden – allesamt Ostdeutsche – war in der Lage zu erklären, warum die Menschen, mit denen sie in derselben Stadt wohnen und in dieselbe Schule gegangen sind, AfD und BSW wählen. „Denen geht es gut, aber sie tun nichts als jammern.“ „Das sind keine Nazis.“ „Einige schon.“ „Die meinen das nicht ernst.“ „Aber warum wählen sie sie dann?“ „Na, weil sie doof sind.“ Wir waren fassungslos.

Weniger rätselhaft stellt sich der Ausgang der Wahlen für die meisten im Berliner Betrieb der Hauptstadtpolitik dar: Mit ihrem Wahlverhalten hätten die Sachsen und Thüringer die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP abgestraft. Die Ampel war’s. 

Die drei Regierungsparteien agierten unprofessionell, heißt es. Bundeskanzler Scholz erkläre zu wenig, er trete vor die Bevölkerung wie ein empathieloser Bürokrat. CSU-Chef Markus Söder frohlockte: „Die Ampel hat nicht nur verloren, die Ampel ist eine rauchende Ruine.“ Man ist sich einig, ein Politikwechsel sei erforderlich. Es sei nötig, die Zuwanderung stärker zu beschränken, mehr für die innere Sicherheit zu tun, die Kriminalität wirkungsvoller zu bekämpfen, aber, so wird ergänzt, auch in der Bildungspolitik, im Wohnungsbau und in Fragen sozialer Gerechtigkeit müsse mehr getan werden. Von den Haushaltslöchern bis zum Bahnchaos – die Ampel habe die Lage nicht mehr im Griff. Die Menschen spürten das und wollten die Regierung von Scholz, Habeck und Lindner auf dem Umweg über Erfurt und Dresden einfach loswerden. 

Nichts kann sie umstimmen

Tatsächlich? Hat fast die Hälfte der Ostdeutschen aufgrund von Fehlern der Ampelregierung für die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht votiert? Und wäre das durch eine bessere Politik zu vermeiden gewesen? Was wäre geschehen, wenn Armin Laschet als Kanzlerkandidat der Union 2021 gewonnen hätte? Wenn er im Wahlkampf, als er die Flutgebiete nach der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal besuchte, nicht zur Unzeit gelacht und dabei seine Zunge herausgestreckt hätte? Wenn er als Sieger der Bundestagswahlen eine Regierungskoalition mit den Grünen geschmiedet hätte? 

Hätte ein Bundeskanzler Laschet durch eine andere Politik das Wahldebakel in Sachsen und Thüringen verhindern können? Vielleicht hätte er eine strengere Politik in Sachen innere Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung betrieben, illegale Zuwanderung stärker zu begrenzen versucht, sich eindeutiger an die Seite der Ukraine gestellt, früher und schneller Waffen an das überfallene Land geliefert. Bestimmt hätte er auch heiklen Themen wie Integration und Islamismus mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht wäre es unter seiner Kanzlerschaft zu einem überzeugenderen Gesetz zum Umstieg auf klimafreundliche Heizungen gekommen. Aber hätte eine schwarz-grüne Regierung Laschet die Ostdeutschen zu einem anderen Wahlverhalten bewogen? Wären es dann nicht über 40 Prozent gewesen, die für die AfD oder das BSW gestimmt hätten, sondern nur 35 Prozent oder gar nur 25 Prozent? 

Seit Jahren bemühen sich die demokratischen Parteien Deutschlands, die Journalistinnen und Journalisten in Rundfunk, Zeitung und Fernsehen, die Bildungseinrichtungen und andere zivilgesellschaftliche Akteure um die Ostdeutschen. Sie wollen sie für die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik gewinnen. Sie versuchen herauszufinden, wie der Osten tickt, wollen den Ostdeutschen zuhören, wenn diese ihre Biografien erzählen, schlagen wie der Bundespräsident einen Pakt der gegenseitigen Wertschätzung vor und ermahnen sich gegenseitig, auf jede Belehrung der ostdeutschen Landsleute zu verzichten. Seit der Wiedervereinigung sind hohe Summen in den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Aufbau von West nach Ost geflossen. Die Bundesregierung erstattet regelmäßig Bericht über den Stand der deutschen Einheit, der inneren wie der äußeren. Inzwischen bekundet eine satte Mehrheit der Ostdeutschen in Befragungen, dass sie mit ihrer persönlichen Wirtschaftslage zufrieden sei, dass die Wiedervereinigung ihnen mehr Vorteile als Nachteile gebracht habe. Kaum einer will die alte DDR zurück. Dennoch sprechen sich seit Jahren etwa 30 Prozent der Ostdeutschen für die AfD aus. Kein Dialogangebot, keine Aufklärungs- und Bildungsanstrengung, kein Bürgerforum, nicht einmal die massive Verbesserung ihrer Lebensstandards kann sie umstimmen.