Solange wie er hat kaum ein Deutscher gearbeitet – und er arbeitet immer noch: Roland Berger (87), die deutsche Unternehmensberater-Legende. BILD traf ihn in München in seinem mit großer Kunst (Baselitz, David Smith) ausgestattetem Büro an der Maximilianstraße zum Interview.
Herr Berger, Sie arbeiten seit 1956, haben viele Kanzler kommen und gehen sehen, einige davon auch beraten. Wie schauen Sie auf Olaf Scholz?
Den halte ich in der Tat für extrem unterdurchschnittlich. Er konnte seine Koalition nicht führen, nicht zusammenhalten. Er hat die deutsche Wirtschaft in die Rezession gefahren. Auch dadurch, dass er unheimlich viel Planwirtschaft, Dirigismus usw. in der Wirtschaftspolitik zugelassen hat. Und er hat den Sozialstaat aufgebläht und die deutschen Haushalte ins Defizit gefahren.
Als Kanzler ist er mitverantwortlich für den Unfrieden, den wir in Europa haben. Die deutsch-französische Freundschaft ist im Eimer, weil Macron und Scholz sie nicht verstanden haben. Und das geht aus meiner Sicht von Scholz aus. Deutschland ist außenpolitisch einigermaßen isoliert geblieben, weil wir einen Regierungschef haben, der nicht kommunizieren konnte, der keine Beziehungen aufbauen, der einfach nicht mit Menschen umgehen konnte. Das Schlimmste ist seine zögernde Art, wie er die Ukraine behandelt hat.
Unsere Kinder sind maßlos verwöhnt
Deutschland steckt seit drei Jahren in einer Rezession. Was für ein Land übernimmt der nächste Kanzler – aller Voraussicht nach Friedrich Merz?
Er übernimmt ein Land, das wirtschaftlich in einer extremen Krise ist. Das seit fünf Jahren inklusive Pandemie kaum noch gewachsen ist. Und das Produktivitätswachstum, was der entscheidende Wachstumstreiber ist, das liegt auch mehr oder weniger bei knapp über Null.
Sie haben den Aufstieg Deutschlands nach dem Krieg miterlebt, die Wiedervereinigung, als der alte Teil Deutschlands dank seiner Wirtschaftskraft den neuen Teil mitziehen konnte. Sind diese Zeiten vorbei?
Ich finde schon. Wir müssen uns neu erfinden. Einmal technologisch. Wir brauchen aber auch eine andere Mentalität. Unsere Kinder, die jungen Menschen sind eigentlich alle maßlos verwöhnt. Daher auch die Ansprüche am Arbeitsmarkt: Vier-Stunden-Woche, Work-Life-Balance und die ganzen Sprüche. Wobei wir in Deutschland Fachkräftemangel haben und genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, in denen man sich verwirklichen kann. Ich verstehe, dass wir auf Freundesreis und auch auf die Familie Wert legen. Da hat die Nachkriegsgeneration, zu der ich mich auch noch zählen kann, zu wenig getan. Aber Arbeit ist ja nicht nur eine Belastung. Arbeit ist auch Genugtuung, etwas geleistet zu haben.
Unser Land wurde politisch runtergefahren
Sind wir auch politisch am Ende, mit der ständigen Suche nach dem größten Konsens?
Das fing schon mit Angela Merkel an. Sie fing an mit einem relativ massiven Reformprogramm, das nahtlos an die Agenda 2010 von Gerhard Schröder anschloss. Und nach und nach hat sie gemerkt, dass sie da auf Widerstände stößt. Sie hat das halblinke Herz in sich entdeckt und dann nach Allensbach, nach Demoskopen, regiert – geschaut, wie die Stimmungen waren. Und so hat sie sich auch ihre Politik zurechtgelegt. Bestes Beispiel: der Atomausstieg, den sie ja vorher erst umgedreht hat. Sie hatte erst Schröders Atomausstieg abgesagt, den Neubau von Atomkraftwerken angekündigt. Und nach Fukushima hat Merkel die Stimmungsänderung in Deutschland auch noch selbst beschleunigt. Dann hat sie diese Energiequelle, die durchaus zukunftsfähig ist, dem Volk einfach weggenommen.
War die Merkel-Zeit schädlich, auch für die Stimmung im Land?
Angela Merkel hat uns, hat das Volk einfach nicht für voll genommen. Sie hat uns einfach keine Visionen, keine Werte wie Arbeitsmoral vermittelt. Sie hat das Volk einfach maßlos verwöhnt. Sie hat den Sozialstaat vor allem in ihrer letzten Großen Koalition mit den Sozialdemokraten, mit Herrn Heil, den es ja leider immer noch gibt in der Regierung und hoffentlich nicht mehr in der nächsten, aufgeblasen wie niemand vorher. Da ist ihr Olaf Scholz nahtlos gefolgt. Wir sind ein Land, das wirklich politisch runtergefahren wurde.
Haben Sie den Eindruck, dass einer der Kanzlerkandidaten tatsächlich begriffen hat, was auf ihn zukommt? Wie radikal sich Deutschland und die Politik ändern müssen?
Bei Friedrich Merz habe ich den Eindruck: Der hat verstanden, was zu tun ist. Ob er es dann umsetzen kann, ob er die Kraft hat …? Denn er muss ja mit einem Koalitionspartner regieren, der im Zweifel andere Ansichten hat. Für mich ist die Koalition mit der SPD ein vorformulierter Flop. Denn die SPD wird bei ihrem Sozialhang keinen Meter zurückgehen.
Die Grünen?
Die Grünen sind aus meiner Sicht im Grunde eine offene Partei. Die Tatsache, dass Herr Habeck 3,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Verteidigung einfordert, das ist für mich ein Zeichen, dass sie in Sicherheitsfragen die Zeichen der Zeit erkannt haben und bereit sind, von der vergangenen, rein defensiven Politik abzurücken.
Die soziale Marktwirtschaft wurde zur Planwirtschaft
Aber jetzt rufen doch die Grünen immer nach Subventionen. Marktwirtschaftlich ist daran doch wenig?
Ja, die gegenwärtige Regierung hat unter starkem Einfluss von Herrn Habeck mit dirigistischen, bis ins Detail vorformulierten Maßnahmen an die Technologie, an die Unternehmen, an die Bürger, welche Heizung bis wann eingebaut werden musste, welcher Motor bis wann in der Produktion bleiben darf, in die Wirtschaft eingegriffen. Solche Detaileingriffe in die Wirtschaft sind das Gegenteil von sozialer Marktwirtschaft. Diese Marktwirtschaft, die aufgebaut hat auf Freiheit, auf einem Rechtsstaat und auf persönlicher Initiative, auf Leistungswillen, hat Deutschland einst groß gemacht. Und sie wurde langsam mit dem Rückbau der Schröder-Reformen durch Frau Merkel abgetragen. Bis in die derzeitige Ampel, die die soziale Marktwirtschaft in eine Planwirtschaft umstrukturiert hat, eine staatlich gelenkte dirigistische Planwirtschaft.
Wie kommen wir denn aus dem Schlamassel wieder raus?
Das wird nicht einfach sein, weil die Leute einfach maßlos verwöhnt sind. Aber wir müssen die Subventionitis abbauen. Wir müssen wieder zurück zur Sozialen Marktwirtschaft, das geht gar nicht anders. Wir haben auch das Geld nicht mehr für diese Subventionitis und diese Aufblähung des Sozialstaats, der öffentlichen Haushaltskasse, bei Vernachlässigung aller Investitionen.
Muss sich die nächste Bundesregierung bei den Ausgaben auf Pflichtaufgaben wie Polizei, Bildung, Infrastruktur konzentrieren – und den das, was Sie Subventionitis nennen, abschneiden?
Ja! Im Übrigen kann der Staat solche Aufgaben auch an Private geben. Zum Beispiel im Straßenbau und dafür eine Maut erheben. In der öffentlichen Verwaltung lassen sich in vier Jahren 20 Prozent einsparen. Das heißt: Wenn man die Verwaltungsausgaben nur stabil hielte und den ansteigenden Teil des Haushalts für Investitionen verwendete, wäre Deutschland ein hochproduktives Land. Eines, in dem man wieder stolz sein kann, dass die Bahn fährt, dass die Straßen alle funktionieren, dass die Brücken sicher stehen und nicht bei Gelegenheit zusammenklappen. Ich meine, das klingt ja wie im Entwicklungsland …
Donald Trump ist wieder US-Präsident und ein großer Freund von Zöllen. Wie gefährlich wird das für unsere Wirtschaft?
Wir haben es ausgerechnet: Wenn US-Zölle von 10 Prozent auf alle EU-Exporte eingeführt werden sollten, dann führt das in Deutschland zu 300.000 Industriearbeitsplätzen, die nicht mehr besetzt werden können.
Der Wohlfahrtsstaat muss eingefroren werden
Sind wir zu hysterisch, wenn wir auf Trump gucken?
Seine Art ist nicht wirklich nachahmenswert. Aber man muss mit ihm reden, man muss auf ihn eingehen, mit ihm reden. Er war ein Immobilienhändler. Für ihn ist Wirtschaft in starkem Maße ein Nullsummenspiel. Trump ist aus meiner Sicht für einen guten Deal allemal zu haben. Warum sollen wir schlechtere Dealmaker sein? Unsere Wirtschaft, die 50 Prozent ihrer Leistung exportiert, hat ja bewiesen, dass man weltweit auch Deals machen kann. Warum nun plötzlich mit Amerika nicht mehr, nur weil anderer Präsident da ist?
Was muss der nächste Kanzler als Erstes tun?
Für Wirtschaftswachstum sorgen. Und das Einfrieren des Sozialstaats oder des Wohlfahrtsstaats, der wir geworden sind. Mit Bürokratieabbau, mit Steuerreduzierungen – und zwar für Unternehmer wie auch für Arbeitnehmer. Ein Kanzler Friedrich Merz muss uns außenpolitisch erst mal wieder satisfaktionsfähig machen. Er muss die EU einen, er muss die transatlantische Partnerschaft aufbauen. Er muss das Verhältnis zu China wieder entideologisieren. Wir haben heute drei China Strategien: eine aus dem Wirtschaftsministerium, eine aus dem Außenministerium und einer aus dem Kanzleramt. Alle drei sind feministisch, werteorientiert und darauf ausgerichtet, China zur Demokratie zu machen. Das wird uns nicht gelingen.
Die Ukraine muss den Krieg gewinnen
Was noch?
Der nächste Kanzler muss das Thema Russland/Ukraine in irgendeiner Form gemeinsam mit den Amerikanern angehen. Denn eines müssen wir in Deutschland immer wissen: Wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnt, dann wissen wir, dass Putin bald an unseren europäischen Grenzen stehen wird. Also: Merz muss außenpolitisch wieder Scherben kitten. Das ist wirklich wichtig auch für das Wohlergehen unserer Wirtschaft. Wir dürfen nie vergessen: Die Hälfte unserer Beschäftigten hängt am Außenhandel.
Wer hat Sie in ihrem langen Berater-Leben aus der politischen Riege beeindruckt?
Konrad Adenauer war für mich der Anfang, des glücklichen Deutschlands mit seiner Westorientierung, mit seiner deutsch-französischen Freundschaft, mit der Europa-Orientierung. Dann kam Willy Brandt mit seiner Ostpolitik, der völligen Neuorientierung des Landes, was auch Basis unserer Wiedervereinigung ist. Helmut Schmidt, der ein großer Kommunikator, aber auch ein großer Macher war. Dann Helmut Kohl. Er war DER große Europäer, speziell mit den Franzosen Jacques Delors und François Mitterrand. Er hatte auch seine Schwächeperiode – aber ihm ist die Wiedervereinigung mitzuverdanken. Und dann noch: Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010. Und seither, tja, da fällt mir nichts mehr ein …
Frau Weidel würde ich nicht beraten
Schauen wir mal die aktuellen Kanzlerkandidaten an. Wer bräuchte Ihre Telefonnummer am dringendsten, wer bräuchte am dringendsten Ihre Beratung?
Also Frau Weidel würde ich nicht beraten, die fällt für mich unter die Decke. Am erfolgreichsten könnte man noch Herrn Habeck beraten. Friedrich Merz kenne ich, dessen Handynummer habe ich, genauso wie ich die Handynummer hatte von Angela Merkel, die nicht auf mich gehört hat.
Haben Sie denn die Handynummer von Olaf Scholz?
Nein, die Handynummer von Olaf Scholz habe ich nicht. Wir haben nie ein sachliches, professionelles und menschliches Verhältnis gehabt, dass wir auch nur Anlass sahen, uns die Hände zu geben.
Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben!
Gerne, hat Spaß gemacht und ich hoffe, dass ein paar Politiker zuhören …