Zwei Fischkutter liegen im Hafen von Niendorf an der Ostsee, direkt gegenüber den Fischbuden, die an der Kaikante aufgereiht sind. An diesem Wintertag hat nur eine von ihnen geöffnet. Entsprechend lang ist die Schlange der Touristen, die geduldig für Stremellachs im Brötchen oder gebackenen Dorsch mit Remoulade anstehen. Manchem dieser Fischfreunde werden beim Blick auf die Lübecker Bucht aber Zweifel kommen. Der Dorschfang ist in der Ostsee wegen zu geringer Bestände ausgesetzt und vom Lachs raten Umweltorganisationen ab, wegen der schwierigen Bedingungen in der Fischzucht.
Gibt es überhaupt noch Fisch, den man ohne Bedenken kaufen kann? Der Wunsch nach Orientierung beim Einkauf ist groß, doch verlässliche Informationen sind schwer zu bekommen. Zumal an einem Imbiss, der den Eindruck erweckt, als käme die Ware direkt aus dem Wasser daneben. Im Supermarkt prangen immerhin Siegel auf den Packungen, etwa vom Marine Stewardship Council (MSC), Naturland oder Bioland. Auch das EU-Bio-Zeichen oder Fischratgeber wie der des World Wilde Fund for Nature (WWF) liefern Einkaufshilfen. Im Einzelhandel dominiert das MSC-Siegel. Und daran gibt es Kritik.
Umweltverbände werfen dem MSC mit Sitz in London vor, dass es seine selbst gesteckten Ziele seit Jahren nicht erreicht. Sie kritisieren die Kriterien für die Vergabe des Siegels, die Art der Kontrollen und werfen der Organisation vor, dass trotz ihrer Arbeit die Überfischung der Meere nicht vermindert wird. Stattdessen geraten immer mehr Bestände in Gefahr – trotz MSC-Fischerei.
Tatsächlich will nur ein Bruchteil der weltweiten Fischereien an dem Programm teilnehmen und die Umweltkriterien des MSC erfüllen. Aktuell sind 16 Prozent der globalen Fangmenge von rund 90 Millionen Tonnen Wildfisch mit dem Siegel versehen. Dahinter stehen 500 Fischereien. Ursprünglich hatte sich der Marine Stewardship Council das Ziel gesetzt, bis 2020 einen Anteil von 20 Prozent zu erreichen und 30 Prozent im Jahr 2030. Das scheint kaum realistisch. Auch, weil sich die Bedingungen für die Fischer dramatisch verändern.
„Der Klimawandel und die Erwärmung der Meere haben dazu geführt, dass einigen zertifizierten Fischereien das Siegel entzogen werden musste“, sagt Kathrin Runge, Programmleiterin des MSC, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Die 55-jährige Managerin verantwortet seit vergangenem Juni MSC in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In bestimmten Meeresgebieten seien die Bestandsgrößen zu klein geworden, sagt sie, oder die Fangnationen hätten sich nicht mehr auf eine nachhaltige Quotenaufteilung einigen können. Beides hat den Entzug des Siegels zur Folge.
Wegen der Meereserwärmung ziehen etwa Makrelenschwärme in kältere Gebiete. Dadurch verlieren Betriebe das MSC-Siegel, die sie bisher fischten und die nun in den Regionen mit niedrigeren Beständen weiter Fischfang betreiben. Makrelen oder Makrelenprodukte mit dem Siegel gibt es aus diesem Grund in Deutschland derzeit gar nicht. Beim Hering oder Dorsch in der Ostsee sind die Bestände derart gesunken, dass auch dort Fischereien vom MSC-Programm suspendiert wurden. Die globale Wirtschaftskrise und hohe Inflationsraten hätten ebenfalls einen negativen Einfluss.
Laut Angaben der Vereinten Nationen sind 38 Prozent aller Bestände überfischt. Vor sechs Jahren waren es noch 33 Prozent. „Ohne die vom MSC zertifizierten Fischereien würden diese Zahlen noch dramatischer aussehen“, verteidigt Runge das Vorgehen der Organisation. Bevor sie zu MSC kam, arbeitete die Managerin 20 Jahre lang bei dem Mittelständler Gottfried Friedrichs, einem Räucherfisch-Spezialisten aus Hamburg. Am MSC-Ziel, bis 2030 einen Anteil von 30 Prozent am globalen Fischfang erreichen zu wollen, hält Runge fest.
Meeresexperten mahnen indes umfangreichere oder schärfere Kriterien für die Zertifizierung an. Im MSC-Siegel seien die Folgen der Klimakrise nicht ausreichend berücksichtigt, heißt es etwa bei der Umweltschutzorganisation WWF. „Es sollte einen ökologischen Puffer geben, einen Faktor, um den die Fangmengen verringert werden“, sagt Philipp Kanstinger, Meeresbiologe beim WWF in Deutschland.
Zudem habe MSC das Problem der Unabhängigkeit seiner Zertifizierer vor Ort nicht gelöst. „Die Prüfer werden von den Fischereien selbst ausgesucht und beauftragt“, kritisiert Kanstinger. MSC-Landeschefin Runge verteidigt diese Praxis. „Auch den TÜV sucht sich ein Autofahrer selbst aus und bezahlt ihn selbst“, sagt sie. Die Prüfgesellschaften für die Fischereibetriebe seien akkreditiert und würden überwacht.
Beifang-Regeln seien unzureichend
Es gibt aber noch grundsätzlichere Einwände mit Blick auf die MSC-Standards. „Wirksame Kontrollmechanismen, ob die Kriterien des Siegels tatsächlich eingehalten werden, existieren nicht oder sie sind nicht gut genug“, meint Kanstinger. So seien die Regeln für den Beifang nicht ausreichend und MSC mache keinen Unterschied, ob Fischereien in einem Meeresschutzgebiet oder außerhalb dieser Gebiete arbeiteten.
Die Ansprüche bei der Vergabe des Siegels seien in beiden Fällen gleich. „Dabei sollte es etwa im Nationalpark Wattenmeer in der Nordsee nur eine eingeschränkte industrielle Fischerei geben, um etwa den Boden dieses Meeresgebietes wirksam zu schützen“, sagt der Biologe. Das sieht MSC wiederum nicht als seine Aufgabe an und verweist darauf, dass die Nationalpark-Organisationen entscheiden müssten, welche Nutzung in einem Schutzgebiet zulässig sei.
Dabei sind der Erhalt der Fischbestände und der Schutz der Ökosysteme die Hauptkriterien des MSC-Siegels und seiner 280 Beschäftigten. Sie bewerten die Art des Fanggeräts von Angeln bis zu Schleppnetzen und das Fischereimanagement mit der Erfassung der gefangenen Arten und Mengen. Auch der Beifang spielt eine wichtige Rolle, also jene Tiere, die neben den gezielt gefischten Arten ungewollt mitgefangen werden. Diese Fische werden in vielen Fällen tot ins Meer zurückgeworfen.
Das Siegel verfolgt kein kommerzielles Ziel. Vielmehr soll es zu einem „schnelleren und flächendeckenderen Wandel in der globalen Fischerei“ beitragen. „Wir verfolgen einen marktbasierten Ansatz“, sagt Managerin Runge. „Der Treiber zur Verbreitung des Siegels ist das Nachhaltigkeitsbewusstsein der Verbraucher beim Fischkonsum.“ In Deutschland schauen Einzelhandelsketten wie Edeka, Rewe oder Aldi bei ihren Lieferanten zunehmend auf Nachhaltigkeitslabel.
Der Jahresetat in Höhe von 33 Millionen Euro stammt zu 93 Prozent aus Abgaben der Fischindustrie und der Lebensmittelindustrie. Unternehmen wie Frosta, Iglo oder Deutsche See zahlen für das Siegel. In Deutschland, Österreich und der Schweiz hat es einen Anteil von 55 Prozent am Verkauf von Wildfisch. Doch dieser Wert ist stetig gesunken, 2020 waren es noch 62 Prozent.
Nun soll ein weltweites Programm zur Verbesserung von Fischereien helfen. MSC unterstützt einige nicht nachhaltige Fischereibetriebe über einen mehrjährigen Zeitraum, damit diese die Kriterien erreichen und sich zertifizieren lassen können. An einem Testprogramm haben 16 Fischereien teilgenommen, aus Südafrika, Mexiko, Indonesien, Indien, Nicaragua, Peru und Schottland. Einige von ihnen fangen nun Weißen Thunfisch in MSC-Qualität.
Birger Nicolai ist Wirtschaftskorrespondent in Hamburg. Er berichtet über Schifffahrt, Logistik, den Tankstellen- und Kaffeemarkt sowie Mittelstandsunternehmen.