Es war einer der schlimmsten Angriffe in der Ukraine seit Beginn des Krieges: Mindestens 55
Menschen wurden am Dienstagmorgen in Poltawa bei einem russischen Raketenangriff
getötet, mehr als 300 verletzt. Ziel war offenbar ein Gebäude des
militärischen Instituts für Kommunikation, getroffen wurde ukrainischen Angaben
zufolge auch ein Krankenhaus.
Laut dem
ukrainischen Verteidigungsministerium schlugen zwei Raketen bereits kurz
nachdem Luftalarm ausgelöst wurde ein. Viele Menschen seien noch auf dem Weg in
die Luftschutzbunker gewesen. Bei den Toten soll es sich um ukrainische
Landstreitkräfte handeln, die sich vor den Gebäuden des Instituts versammelt
hatten. Die zentralukrainische Stadt Poltawa liegt rund 300 Kilometer östlich
der Hauptstadt Kiew.
Die zweite Rakete
sei eingeschlagen, „als Helfende bereits die Verletzten versorgten“, schrieb die
deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auf X. Russlands
Präsident Wladimir Putin müsse zur Rechenschaft gezogen werden, er kenne „keine
Grenze der Brutalität“.
Der CDU-Vorsitzende
Friedrich Merz warf Russland vor, in Poltawa „schwerste Kriegsverbrechen“
begangen zu haben. Der Konflikt lasse sich nur lösen, wenn Putin gezwungen sei,
„die Aussichtslosigkeit eines weiteren militärischen Vorgehens“ zu erkennen.
Davon sei er jedoch weit entfernt.
Innerhalb der
Ukraine kam Kritik an der Militärführung auf, nachdem russische und ukrainische
Blogger berichtet hatten, der Angriff habe einer Militärzeremonie gegolten, die
offenbar unter freiem Himmel abgehalten wurde. Kritisiert wurde daher, dass es
trotz der Gefährdung durch russische Angriffe überhaupt derartige Versammlungen
gibt. In einer Erklärung der ukrainischen Streitkräfte hieß es im Anschluss, eine
Untersuchung solle feststellen, ob genug getan worden sei, um das Personal zu
schützen.
In der Ukraine sind die Trauer und das Entsetzen nach dem Angriff in Poltawa groß. An ihm zeigt sich erneut die Verwundbarkeit der
Ukraine durch russische Luftangriffe. Um diesen etwas entgegenzusetzen, fehlt
der ukrainischen Armee zweierlei: Zum einen die militärische Fähigkeit,
russische Angriffe gänzlich abzuwehren. Und zum anderen fehlt der Ukraine die Erlaubnis
ihrer Verbündeten, gelieferte Waffen auch auf russischem Boden einzusetzen.
Vor diesem
Hintergrund müssen die Äußerungen Wolodymyr Selenskyjs in dieser Woche
verstanden werden. So machte es sich der ukrainische Präsident in den
vergangenen Tagen wieder vermehrt zur Aufgabe, auf die beiden genannten
Probleme hinzuweisen. Noch am Tag des Angriffs in Poltawa appellierte er an
alle Verbündeten, die die Macht hätten, Russlands Terror zu stoppen:
„Flugabwehrsysteme und zugehörige Raketen werden in der Ukraine gebraucht,
nicht irgendwo in einem Lager.“ Zudem drängte er auf die Erlaubnis,
weitreichende Waffen gegen Russland einsetzen zu dürfen. „Schläge mit großer
Reichweite, die den russischen Terror abwehren können, werden jetzt gebraucht,
nicht irgendwann später“, sagte Selenskyj. „Jeder Tag der Verzögerung ist leider ein
Verlust an Menschenleben.“
Selenskyjs Mission,
die geforderte Unterstützung zu bekommen, ist es auch, die ihn am Freitag kurzfristig
erneut nach Deutschland brachte. Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im
rheinland-pfälzischen Ramstein traf sich auf Einladung des
US-Verteidigungsministers Lloyd Austin die sogenannte Ukraine-Kontaktgruppe. Zu
ihr gehören rund 50 Staaten, die die Ukraine in der Abwehr des russischen
Angriffskriegs unterstützen. Der ukrainische Präsident reiste mit dem Ziel nach Ramstein, den Ernst der Lage in der Ukraine
persönlich und eindrücklich zu schildern. Im Anschluss traf er Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Selenskyj forderte in Ramstein von den westlichen Partnern Langstreckenraketen, um damit
Ziele in Russland angreifen zu können. Auch weitere F-16-Kampfjets seien
notwendig, um gegen das russische Militär bestehen zu können, sagte er auf dem US-Stützpunkt.
Zudem benötige sein Land mehr Kapazitäten für die Luftverteidigung. An seine
Verbündeten appellierte er, die „roten Linien“ Putins zu ignorieren. Dieser hatte wiederholt vor Angriffen auf russisches Gebiet sowie einer Einmischung der Nato, beispielsweise durch die Lieferung entsprechender Waffen, gewarnt.
In Ramstein setzte der
ukrainische Präsident somit ein klares Signal: Die Ukraine will den Krieg hinter die Front zurücktragen, weit auf russisches Gebiet. Mit
Präventivschlägen will sie militärische Infrastruktur Russlands zerstören und
russische Angriffe somit verhindern – mit den Waffen und der Rückendeckung des Westens.
Dass er die erhoffte
Unterstützung bekommen wird, gilt derzeit als unwahrscheinlich. So sind es genau die von
Putin gezogenen „roten Linien“, die die westlichen Verbündeten der Ukraine eine
weitere Eskalation befürchten lassen. Als Trost darf Selenskyj zumindest mit
konkreten Zusagen für weitere Waffenlieferungen in die Ukraine zurückkehren – wie eine Handvoll deutsche Panzerhaubitzen. Seine
große Mission jedoch bleibt vorerst erfolglos.
Die Zitate: Wirksame Waffen für die Ukraine
Selenskyjs Forderungen, die Ukraine mit weitreichenden Waffen und Flugabwehrsystemen zu unterstützen, wirken beinahe wie eine alte Leier. Angesichts der Toten in Poltawa und an anderen Orten im Land zeugen sie jedoch vielmehr von einer bitteren Realität. Deshalb bekräftigte der ukrainische Präsident, sein Land wolle Ziele in Russland angreifen. Für ihn ist dies kein Widerspruch zur Diplomatie, sondern ein Weg, Putin überhaupt erst an den Verhandlungstisch zu bringen.
Auch der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, CDU-Chef Merz, äußerte sich in dieser Woche kritisch über die Unterstützung der Ukraine durch ihre westlichen Verbündeten. „Wir haben zu viel gezögert, wir haben zu spät geholfen„, sagte Merz der Nachrichtenagentur dpa. Die Ukraine müsse sich „umfassend verteidigen können, und sie muss auch in die Lage versetzt werden, die Nachschubwege der russischen Armee auf russischem Staatsgebiet anzugreifen“. Tue sie das nicht, so gehe sie mit gebundenen Händen in die Auseinandersetzung mit Russland.
Die wichtigsten Meldungen: Regierungsumbau und Angriffe auf Lwiw
- In der Ukraine hat Präsident Selenskyj in der laufenden Woche einen umfangreichen Umbau der Regierung vorangetrieben. Zahlreiche Minister reichten ihre Rücktritte ein, darunter die Minister für strategische Industrien, Justiz und Umweltschutz sowie Außenminister Dmytro Kuleba. Auf Kuleba folgt Andrij Sybiha, ein langjähriger Mitarbeiter Selenskyjs. Kritiker werfen dem Präsidenten vor, durch die personellen Änderungen seine Macht ausbauen zu wollen. Selenskyj begründete die Kabinettsumbildung jedoch damit, für „neue Energie“ sorgen zu wollen.
- Russische Luftangriffe wurden in den vergangenen Tagen aus verschiedenen Regionen der Ukraine gemeldet, darunter Charkiw, Dnipropetrowsk, Saporischschja und die Hauptstadt Kiew. Teilweise gab es bei den Angriffen Tote und Verletzte.
In der Stadt Lwiw wurden bei nächtlichen Luftangriffen am Mittwoch sieben Menschen getötet, darunter drei Kinder. Mehr als 40 Personen wurden verletzt sowie 50 Gebäude beschädigt, darunter Schulen und historische Bauten in der Altstadt.
Lwiw liegt im Westen der Ukraine, nur rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt:
Weitere Nachrichten: Gaslieferungen und Sorge vor atomaren Zwischenfällen
- Erstmals seit knapp zwei Jahren haben die EU-Staaten in einem
Quartal wieder mehr Gas aus Russland importiert als aus den USA. Das geht aus
Daten der Brüsseler Beratungsgesellschaft Bruegel hervor. Zwar gingen die Lieferungen aus Russland im Vergleich zum vorherigen Quartal leicht zurück, die aus den USA jedoch noch stärker. Damit ist Russland aktuell trotz des Krieges gegen die Ukraine zweitgrößter Gaslieferant für die EU hinter Norwegen. - An Deutschland gerichtet sagte Putin in dieser Woche, das Land könne nach wie vor über die Nordstream-Pipeline Gas aus Russland beziehen – eine der Röhren sei schließlich noch intakt. Wer freiwillig teureres Flüssiggas beziehe, nehme wirtschaftliche Verluste in Kauf. Vor dem Hintergrund auslaufender Verträge, die den Transit von russischem Gas über die Ukraine regeln, betonte Putin die Bereitschaft seines Landes, weiterhin Gas zu liefern.
- An gleich zwei Orten in der Ukraine herrschte diese Woche Angst vor atomaren Zwischenfällen. Während ein rund 20 Hektar großer Waldbrand nahe dem Atomkraftwerk Tschernobyl mit dem Kriegsgeschehen wohl nichts zu tun hatte, warnte Rafael Grossi, Chef der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEA), im Rahmen eines Besuchs in Saporischschja vor einer „sehr fragilen“ Lage im dortigen AKW. Ohne Strom könne das größte Atomkraftwerk Europas nicht gekühlt werden, und das könne zu einer Katastrophe führen, sagte er. Seit seinem letzten Besuch dort im Februar habe das Kraftwerk erhebliche Schäden erlitten. Nach einem Brand in dem von russischen Truppen besetzten AKW muss nun voraussichtlich ein beschädigter Kühlturm abgerissen werden. - Ungeachtet eines Haftbefehls des Internationalen
Strafgerichtshofs im niederländischen Den Haagbesuchte Putin diese Woche die Mongolei. Das Land erkennt den Gerichtshof an – dennoch blieb eine Festnahme des russischen Präsidenten aus. „Länder, die internationale Instrumente unterzeichnen, tragen gegenüber den von ihnen unterzeichneten Instrumenten eine Verantwortung“, sagte UN-Sprecher Stéphane Dujarric in New York. Auch vom Auswärtigen Amt, dem ukrainischen Außenministerium sowie aus anderen Ländern kam Kritik am Vorgehen der Mongolei. Putin war dort ehrenvoll empfangen worden.
An der Front: Angst um Pokrowsk
Laut Berechnungen der Nachrichtenagentur AFP auf Grundlage von Daten des Institute for the Study of War (ISW) rückte die russische Armee in der Ukraine im August so stark vor wie seit Oktober 2022 nicht mehr. In der ersten Septemberwoche nahm die Geschwindigkeit russischer Landgewinne jedoch leicht ab. Groß ist weiterhin die Sorge um die ostukrainische Stadt Pokrowsk. Angesichts der näher rückenden russischen Truppen hat die Ukraine Evakuierungen mit dem Zug aus der Stadt nun eingestellt. In Pokrowsk sollen ukrainischen Behörden zufolge noch rund 30.000 Menschen ausharren. Vor dem Krieg hatten dort noch mehr als 70.000 Menschen gelebt. Die Frontlinie verläuft aktuell etwa neun Kilometer südöstlich der Stadt. Sie gilt als wichtiger Logistikstützpunkt der ukrainischen Armee. Seit Monaten weichen ukrainische Truppen vor einem russischen Vormarsch in der Region zurück.
Die Lage nahe Pokrowsk auf der Karte:
Unterdessen laufen sowohl in der Ukraine als auch in Russland die Propagandamaschinerien hinsichtlich der ukrainischen Offensive in Kursk. Laut dem ukrainischen Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj zeigt das Manöver Wirkung. „In den vergangenen sechs Tagen hat der Feind in Richtung Pokrowsk keinen Meter Boden gewonnen. Mit anderen Worten, unsere Strategie funktioniert„, sagte Syrskyj am Donnerstag. Das Vorrücken in Kursk habe „die Moral nicht nur des Militärs, sondern der gesamten ukrainischen Bevölkerung deutlich verbessert“.
Zuvor hatte bereits Selenskyj gesagt, der Vorstoß laufe nach Plan und nehme Druck von der Ostfront. Zudem seien in Kursk mehr als 600
russische Soldaten gefangen genommen worden. Selenskyj hatte kürzlich von einem „Austauschfonds“ gesprochen, um ukrainische Soldaten aus
russischer Gefangenschaft freizubekommen.
Putin hielt diesen Aussagen die Behauptung entgegen, die Offensive in Kursk habe keine Auswirkungen auf die Kämpfe im Donbass. Vielmehr komme die russische Armee im Osten der Ukraine so schnell voran wie lange nicht mehr.
Waffenlieferungen und Militärhilfen
Neben der Zusage von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), Deutschland werde der Ukraine zwölf Panzerhaubitzen 2000 liefern, gab es folgende Entwicklungen:
- Die USA stehen einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge kurz vor einer Vereinbarung über die Lieferung von Marschflugkörpern mit großer Reichweite an die Ukraine. Allerdings müsse die Regierung in Kiew noch mehrere Monate auf die Raketen warten, da die USA vor einer möglichen Lieferung noch technische Probleme lösen müssten. Ob die Lieferung mit der Erlaubnis der USA einhergehen sollen, die Waffen gegen Ziele auf russischem Boden einzusetzen, ging aus dem Bericht nicht hervor.
- Als Reaktion auf den Angriff in Poltawa hat US-Präsident Joe Biden der Ukraine die Lieferung weiterer Luftabwehrsysteme zugesagt. „Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff auf das Schärfste“, sagte Biden am Dienstag. Die US-Regierung werde die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen, „einschließlich der Bereitstellung der Luftverteidigungssysteme und -fähigkeiten, die das Land zum Schutz seiner Grenzen benötigt“.
- Bundeskanzler Scholz sagt der Ukraine weitere Flugabwehrsysteme vom Typ Iris-T zu. Acht Systeme Iris-T SLM und neun Systeme Iris-T SLS seien verbindlich für die Ukraine bestellt, sagt der SPD-Politiker. „Jeweils zwei davon werden noch dieses Jahr geliefert, der Rest ab 2025.“ In der Ukraine seien inzwischen vier Systeme Iris-T SLM im Einsatz. Hinzu komme eine hohe Zahl von Flugkörpern und drei verwandte Systeme Iris-T SLS.
- Die britische Regierung will der Ukraine 650 leichte Mehrzweckraketen im Wert von mehr als 190 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um das Land vor russischen Drohnen und Bombardierungen zu schützen. „Diese neue Zusage wird der ukrainischen Flugabwehr einen wichtigen Impuls geben“, sagte der britische Verteidigungsminister John Healey. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben die Raketen eine Reichweite von mehr als sechs Kilometern und können von einer Vielzahl von Plattformen zu Lande, zu Wasser und in der Luft abgefeuert werden.