Den Schrecken zulassen

Zur Perfidie des
Terrors gehört, dass er in dem Moment, in dem er neue Bilder erzeugt, zugleich alte
wieder aufruft. Traumata brechen durch, ein zwischenzeitlich mühsam aufgebautes
Sicherheitsgefühl einer bedrohten Gruppe implodiert.

Im Falle jenes Mannes, der am
Donnerstagmorgen das Feuer auf Polizisten nahe des israelischen Generalkonsulats
in München eröffnete
, muss man – auf den Tag 52 Jahre nach dem Münchner
Olympia-Attentat auf israelische Sportler und Betreuer – von
Absicht ausgehen, auch was diesen Aspekt der Psychologie betrifft. Das ist an sich grausam und grauenhaft. Es wurde noch grausamer und grauenhafter, weil
der Moment des Schusswechsels fast in Echtzeit eine größere Öffentlichkeit erreichte. Ronen Steinke, Journalist bei
der , teilte am
Donnerstag um 9.37 Uhr – also nur 25 Minuten, nachdem der Täter unschädlich gemacht worden war – mit seinen rund 40.000 Followerinnen auf der Plattform X ein Video
, das mutmaßlich die Szene vor dem Konsulat
zeigte. Auf einer ansonsten menschenleeren Straße, zwischen geparkten Autos und
einem eher steril wirkenden Bürogebäude, sah man – wackelig aus der Deckung eines
Wohnungsfensters gefilmt – eine Person wegrennen. Entscheidend
aber war der Ton: Beklemmend laut hallten Schüsse durch die ansonsten totenstille
Stadtlandschaft.

Sofort sind in solchen Momenten angesichts solcher Bilder und Töne noch ganz andere Sequenzen
wieder da, die – anders als die entscheidenden Akte des Terrors von 1972 – ebenso
auf offener Szene stattfanden, quasi live. Man denkt an die heftige Detonation
bei einem Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland, die sich
hinterher als
Teil der konzertierten Terroraktion an verschiedenen Orten der Stadt Paris am
13. November 2015 herausstellte
. Man denkt an den Lkw, den ein Attentäter 2016 am
französischen Nationalfeiertag über
die Strandpromenade von Nizza jagte
, und an den Anschlag acht
Tage später im Olympia-Einkaufszentrum
, ebenfalls in München. Zu den
unmittelbaren Assoziationen gesellen sich mittelbare: die
Synagogentür von Halle
, die einem rechtsextremistischen antisemitischen
Gewalttäter nur mühsam standhielt, und natürlich auch – im Rahmen des aktuellen
Unsicherheitsgefühls – der
Terror von Solingen vor nur wenigen Wochen
. Das bedeutet nicht, dass
alle Taten politisch zusammengehören. Sie vereinen sich aber zu einer Angst.  

Diese Angst, auch unbändiges
Mitgefühl mit unmittelbarer Betroffenen und Bedrohten, zuvorderst nun – so
unendlich leidig und leidvoll – mal wieder mit Israelis und Juden in
Deutschland, würde einem individuell niemand absprechen. Die politische Vernunft will sie aber begrenzen. Sie wendet sich gegen die Angst, damit
nicht die Falschen von ihr profitieren. „Die dürfen unsere Angst am Ende nicht
bekommen“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach dem
Terroranschlag von Solingen in Richtung derer, „die absichtlich Angst und
Terror innerhalb der Gesellschaft verbreiten“.

Besonnenheit, vielleicht sogar Gelassenheit, so scheint es,
hilft am Ende allen, außer den Angst- und Panikmachern. Sie verhilft der Politik
zu klugen Entscheidungen und zu einem besseren Ansehen, sie hilft auch sonst allen,
mit krisenhaften Situationen besser umzugehen. Und so liegt Besonnenheit sehr nah, gerade wenn es in einer Gefahrenlage nicht zum Äußersten
gekommen ist. „Jüdische Einrichtungen werden besonders geschützt in
Bayern“, sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder am Donnerstag,
nur wenige Stunden nachdem der Terrorist von München an den landesweit
gehörten Schüssen der Polizei gestorben war. Und weiter: „Es hat sich heute
gezeigt, dass das funktioniert hat.“

All das ging sehr schnell. Damit aber war Söder plötzlich Teil
einer bemerkenswerten Allianz, die der mutmaßlich antisemitisch und islamistisch-terroristisch
motivierten Attacke den Schrecken nahm, noch ehe er sich wirklich verbreiten
konnte. Zu ihr gehörten und gehören auch all jene, die eine andere Angst davon
abhält, die Angst vor dem islamistisch motivierten Terror zuzulassen. Es sind
die, die weitere rassistische Agitation von rechts und auch aus der
konservativen Mitte befürchten (und deshalb im Fall von islamistischem und islamistisch
motiviertem antisemitischem Terror oft einfach ganz still werden). Sie
befürchten, dass die Tat eines Einzelnen wiederum zur Bedrohung für viele
andere wird, die mit ihm fälschlich identifiziert werden. Dazu zählen derzeit
vor allem Asylsuchende, die gleich gar nicht mehr ins Land gelassen werden
sollen, dazu zählen auch als fremd identifizierte Menschen im Landesinnern.

Man macht es sich emotional sehr einfach

Der Gedanke ist richtig: Mit
jeder Vereinfachung und Zuspitzung, auch mit jedem Schüren von Ängsten, steigt
die Chance, dass diese Menschen selbst zu Opfern werden: durch Ausgrenzung, affektive
Gewalt oder durch politisch motivierte Straftaten, wie
sie in Deutschland nach wie vor weit mehrheitlich von Rechtsextremisten verübt
werden
. Die Frage ist nur: Stellt nicht auch das Begütigen und Beschweigen oder
auch, wie hier gerade vorgemacht, der whataboutistische Verweis auf eine andere
Tätergruppe eine gefährliche Vereinfachung dar? Insofern, als man es sich
emotional sehr einfach macht, wenn man den eigentlich grauenerregenden Moment sofort in ein
Logikgebilde verschiebt?

Man verrät dann nicht nur die
Opfer, man verrät auch sich selbst. Vor allem verrät man, dass man eigentlich
von Ängsten zerfressen ist. Wer den Moment des Mitgefühls und des eigenen
Entsetzens nicht zulassen kann, ist auch in der Folge maximal unglaubwürdig,
wenn es darum geht, ruhige politische Antworten zu finden.

Vielleicht ist Schrecken das bessere Wort

Dabei gibt es feine Unterschiede:
Es ist völlig in Ordnung, sich nicht individuell bedroht zu fühlen in seinem
Alltag
, es ist auch völlig richtig, Menschen entgegenzutreten, die populistisch
herumposaunen, dass man nirgendwo mehr sicher sei in diesem ach so
kaputten Land. Eventuell ist es sogar richtig, die eigene unmittelbare Reaktion
gerade auf heftige Videos nicht zwingend mit dem Wort Angst zu belegen. Eher passt
zu dem, was man angesichts medial vermittelter Bilder erlebt, sogar ein anderes
besser, das mit der Angst nur gern in einem Atemzug genannt wird: Schrecken.

Diesen Moment des Schreckens
nicht sofort wegzumoderieren, gelingt der Gesellschaft immer schlechter, auch
aufgrund wechselseitig erlittener Verletzungen. Ständig wirft eine Seite der
anderen vor, mit emotionalisierenden Bildern unlauter Politik zu machen, egal ob
die nun ertrunkene Kinder an griechischen Stränden zeigen oder finstere
Jugendliche in westdeutschen Städten. Und ist es jetzt nicht tatsächlich ungerecht, dass vielen das plötzliche Hallen von Schüssen in einer deutschen Großstadt näher geht als die Bilder
aus der Ostukraine oder aus Gaza, diesen fernen, schrecklichen Orten?

Entscheidend für so etwas wie Gerechtigkeit ist es auch
vor diesem Hintergrund wohl, mit Angst keine Politik zu machen, panisch und
provozierend. Das ist aber etwas anderes, als sie, politisch motiviert, gar
nicht erst zuzulassen. Insofern sind auch Frank-Walter Steinmeiers Worte eventuell
stellenweise klüger, als sie weiter oben in diesem Text gemacht wurden: Es
ist richtig, dass die Verbreiter von Angst und Terror die Angst „am Ende“ nicht
bekommen. Dafür muss sie aber die Chance auf einen Anfang haben. Besonnenheit ist wichtig. Aber wirklich besinnen kann sich nur, wer sich ehrlich erschrocken hat.

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