ZEIT
ONLINE: Mohammad Rasoulof, wir
sprechen am vorletzten Tag des Jahres 2024. Ein Jahr, in dem Sie einige der
schmerzhaftesten wie schönsten Momente Ihres Lebens erfuhren: Anfang Mai
entschieden Sie sich, Ihr Heimatland zu verlassen. Noch im selben Monat wurde
Ihr Film in Cannes bejubelt und
prämiert. Im August wurde die deutsche Koproduktion als offizielle Oscareinreichung verkündet, Mitte Dezember kam sie auf die Shortlist
für den besten internationalen Film.
Welche Momente kommen Ihnen als erste in Erinnerung, wenn Sie auf dieses Jahr
zurückblicken?
Mohammad Rasoulof:
Das wichtigste Bild in
meinem Kopf ist der Moment, als ich oben auf den Bergen vor der Grenze zwischen
dem Iran und einem Nachbarland stand .
Es war mein allerletzter Blick zurück auf mein Vaterland. Ich habe mich
verabschiedet und mich gefragt: Wann werde ich es das nächste Mal sehen? Aber seit Kurzem gesellt sich zu diesem Bild noch ein anderes: Wenn ich daran
denke, was in Syrien passiert ist und wie die syrische Bevölkerung es geschafft
hat, Assads Regime zu beenden. Diese beiden Bilder gehören für mich nun
untrennbar zusammen. Und ich frage mich: Wann ist der Iran dran? Wann wird die
iranische Bevölkerung auch frei sein?
ZEIT
ONLINE: Noch vor wenigen Jahren
sagten
Sie in einem Interview,
Sie hätten wenig Hoffnung, dass sich im Iran etwas ändern werde. Damals war
gerade der ultrakonservative Ebrahim Raissi zum Präsidenten gewählt worden.
Haben Sie jetzt mehr Hoffnung, etwa mit Blick auf die Entwicklungen in Syrien?
Rasoulof:
Ich meinte damals, dass
sich durch Raissi nichts ändern wird. Und ich bin immer noch der Meinung, dass
keine Änderung zu erwarten ist, solange jemand aus dieser Machtstruktur an der
Regierung ist. Egal, wer es ist, er wird diese Machtstruktur erhalten. Aber ich
muss zugeben, dass wir alle überrascht waren nach der Bewegung im Herbst 2022. Wir haben eine neue Generation gesehen,
die anders denkt. Diese Generation ist fordernd, sie leistet Widerstand und hat
die Kraft, sich durchzusetzen. Und die Protestierenden haben auch alle anderen
Generationen geprägt, deswegen warten gerade alle auf den richtigen Moment, an
dem sie die Proteste fortsetzen und zeigen können, was sie alles verändern
möchten. Die Hoffnung ist groß, dass diese Generation sich durchsetzen kann.
ZEIT
ONLINE: Im Dezember legte der
amtierende iranische Präsident Massud Peseschkian ein Veto gegen ein
strenges Kopftuchgesetz ein. Glauben Sie, dass das eine Folge der Bewegung ist, oder hat das mit der allgemein angespannten außenpolitischen
Lage zu tun?
Rasoulof:
Es ist ein Ergebnis des
öffentlichen Widerstands der Bevölkerung. Weder die
Regierung noch der Präsident haben dieses Gesetz zurückgestellt, weil
sie das Recht der Frauen anerkannt haben, selbst entscheiden zu dürfen,
was sie anziehen. Der Grund war die Angst, nach einer Verabschiedung
dieses neuen Gesetzes könnte eine neue Welle von Demonstrationen und
Protesten folgen.
ZEIT
ONLINE: Zumindest in den
iranischen Großstädten tragen Frauen und Mädchen zum Teil ihr Haar offen oder
halten sich zumindest nicht mehr so an die strengen Kleidungsvorschriften.
Rasoulof:
Es gibt viele Frauen,
die selbst entscheiden, was sie anziehen wollen und was nicht – trotz der
enormen Unterdrückung des Regimes. Entscheidend ist, dass das Regime, das immer
gewaltsam versucht, die Menschen zu unterdrücken, plötzlich keinen Einfluss mehr
auf diese Menschen hat. Die Bevölkerung hat deutlich kundgetan, dass sie nicht
weiter so leben will. Und ihre Stimme war so laut, dass das Regime endlich
mitbekommen hat, dass die Menschen es nicht mehr anerkennen.
ZEIT
ONLINE: Auch in Ihrem neuen
Film sind es die Frauen, die das
Regime offen infrage stellen. Zwei Schwestern sehen, wie ihre Kommilitoninnen
bei den Demonstrationen von Regierungstruppen brutal zusammengeschlagen werden.
Und wenden sich schließlich gegen den eigenen Vater, der gerade zum Richter am
Revolutionsgericht in Teheran befördert wurde – und damit zum Vertreter eines
Systems geworden ist, das für Frauen und Mädchen tödlich ist. Glauben Sie, dass
die iranischen Frauen für einen Regimewechsel sorgen werden?
Rasoulof:
Die Frauenbewegung hat
eine lange Tradition in der iranischen Gesellschaft. Wichtig finde ich, dass
die neue Frauenbewegung nicht nur aus Frauen besteht, sondern dass sich auch
viele Männer als Teil dieser Bewegung sehen. Diese gemeinsame Frauenbewegung hat
das Regime in eine große Krise gestürzt, und sie wird am Ende auch große
Veränderungen im Iran herbeiführen.