Rücksichtslos, egoistisch, stur, kleinkariert, parteipolitisch taktierend, unanständig – niemand musste nach dem Ampel-Aus härtere Kritik einstecken als FDP-Parteichef Christian Lindner. BILD-Vizechefin Tanja May hat den geschassten Ex-Finanzminister zu einem persönlichen Gespräch getroffen: Wer ist der Mensch hinter dem Politiker?
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„Bei mir denken viele, ich sei im Reichtum aufgewachsen. Privatschule, Austauschjahr, Privat-Uni, die Eltern Investmentbanker. Dabei stimmt das gar nicht“, sagt Lindner und lacht. Er hatte eine bodenständige Kindheit im Städtchen Wermelskirchen nahe Remscheid (NRW). „Das wichtigste Erbe sind Werte. Meine Eltern vermittelten mir ein positives Bild von Leistung und Bildung. Wenn du dich anstrengst und arbeitest, kannst du viel erreichen und stolz auf dich sein. Dieser Gedanke treibt mich an.“
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Vater Wolfgang ist promovierter Mathematiker, Oberstudienrat an Lindners Gymnasium. Die Mutter ist bei Lindners Geburt erst 18 und Auszubildende, arbeitet später als Klinikreferentin. Er ist erst vier, als die Eltern sich trennen. Lindner: „Es gab kein Zerwürfnis, insofern bin ich nicht traumatisiert durch die Scheidung meiner Eltern. Ich wohnte bei meiner Mutter, hatte aber auch mit meinem Vater und den Großeltern engen Kontakt. Meine Kindheit hat mich mit der fürs Leben wichtigsten Ressource ausgestattet, die mich ein glücklicher Mensch sein lässt.“
Er meint Liebe, Vertrauen und Sicherheit. „Meine Eltern und die ganze Familie gaben und geben mir stets das Gefühl, egal, was du machst, ob du scheiterst oder erfolgreich bist: Wir stehen zu dir. Dieses Wissen trägt mich bis heute und lässt mich alles durchstehen.“ Bereut er, keine Geschwister zu haben? „Nein. Aber ich sehe bei meiner Frau, wie bereichernd das ist, einen anderen Menschen zu haben, der aus dem gleichen Nest kommt wie man selbst.“
Im Hause Lindner sei man „krisenerprobt“, wenn er mal wieder mit einer politischen Entscheidung seinen eigenen Weg gehe und für öffentlichen Wirbel sorge. „Meine Eltern und meine Frau kennen mich und wissen, dass es immer weitergeht.“
Als Scheitern empfinde er seine aktuelle berufliche Situation jedenfalls nicht. „Wenn Dinge falsch laufen, muss man die Kraft haben, zu sagen, der eingeschlagene Weg ist falsch, da entsteht Schaden und dieser muss abgewendet werden. Selbst wenn das mit persönlichen Nachteilen verbunden ist.“
An seine Kindheit erinnert sich Christian Lindner folgendermaßen: „Ich war nicht moppelig, ich war fett. Ich brachte mit 14 Jahren hundert Kilo auf die Waage. Das hat mich erschreckt und war ein Wendepunkt. Es hat sich nicht gut angefühlt. Beim Treppensteigen war ich fortwährend außer Atem.“ Von heute auf morgen isst er nur noch Knäckebrot, geht nachmittags in den Wald zum Laufen. „Innerhalb eines halben Jahres nahm ich 30 Kilo ab. Diese Erkenntnis, aus eigenem Antrieb etwas verändern zu können, prägt mich bis heute.“
Heute halte er sein Gewicht im Politikbetrieb, wo in langen Meetings überall Kekse und Brötchen angeboten werden, mit Kraft- und Ausdauersport. „Anders als in der Pubertät habe ich heute Freude an Sport.“ In seinem Haus in Berlin steht ein Rudergerät, eines dieser schicken Holzmodelle mit Wassertank, welches Kevin Spacey in der Netflix-Serie „House of Cards“ nutzt und wie es auch Bundeskanzler Olaf Scholz besitzt.
Schule fiel ihm leicht (Abitur mit Note 1,3). Lindner: „Mathematik, Deutsch und Co. gingen gut. Das hat mir bei der Aufbesserung meines Taschengeldes geholfen. Bei uns zu Hause gab es fünf Mark für jede Eins im Zeugnis. An meine Grenzen gestoßen bin ich aber im Musikunterricht. Zwar konnte ich gut Noten lesen, aber beim Singen der Noten bin ich gescheitert. Es kam mehrfach vor, dass der Musiklehrer durch die Reihen ging und meinte, Christian, danke, es reicht, wenn du mitsummst.“ Er schmunzelt.
In den Pausen auf dem Schulhof gehörte er eher nicht zu den coolen Jungs. Lindner engagierte sich als Schulsprecher, galt als Streber. „Es war keine gute Kombination für mein Ansehen innerhalb der Klasse. Der Dicke, der alles weiß und immer die Einsen im Zeugnis hat.“ An seinem 18. Geburtstag meldete er mit einem Freund sein erstes Gewerbe an, Lindner war freiberuflicher Unternehmensberater und im Stromhandel tätig.
„Nach der Schule ging es zu den ersten Kunden. Manche Mitschüler und vor allem auch Lehrer haben uns da schon beäugt und belächelt. Die Videos von mir als Gründer werden ja bis heute gezeigt und verulkt. Ich kann über mein jüngeres Ich lachen. Aber ich bin auch stolz darauf, dass ich schon ganz früh Verantwortung für meinen Lebensunterhalt übernommen habe. Was ich bin und habe, das habe ich mir erarbeitet.“
Was ist der größte Unterschied zwischen dem Politiker und dem Ehemann, Sohn, Enkel und Freund Christian Lindner? „Andere würden wohl sagen, der private Christian Lindner ist ein ruhiger, harmoniebedürftiger Mensch. Ich weiß schon, dass ich als Politiker mit meinem scharfkantigen Ton bisweilen kühl wirke. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass ich zumeist aus der absoluten Minderheitsposition gegen einen linksgrünen Mainstream agiere.
Politik ist meine Leidenschaft. Aber sie ist nicht alles in meinem Leben. Politik kommt bei mir erst an zweiter Stelle. An erster Stelle kommen Liebe, Familie, Freundschaft. Sie haben oberste Priorität. Blickt man eines Tages auf das eigene Leben zurück, aus dem Gedanken der letzten Lebensstunden, gibt es gewiss niemanden, der einem sagt, du hast zu wenig gestritten oder zu wenig gearbeitet. Man stellt sich vermutlich eher die Fragen: Hast du ausreichend geliebt? Wem bist du als Mensch wichtig, egal, was du auch machst? Darauf kommt es im Leben an.“