Christoph Minhoff setzt auf Ironie. „Wir alle machen es täglich“, schreibt der Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands Deutschland und der Bundesvereinigung der deutschen Lebensmittelindustrie (BVE) in einem Post auf der Plattform LinkedIn. „Wir gehen in den Supermarkt, kaufen dort Joghurt und gleich am Ausgang öffnen wir den Alu-Deckel und schnabulieren mangels mitgeführtem Löffel mit den Fingern das Milchprodukt aus dem Becher, um ihn danach achtlos auf die Straße zu werfen.“
Deswegen gebe es Berge von Joghurtbechern in den Städten und in der Natur. „Oder bringen Sie den Joghurt nach Hause und stellen ihn in den Kühlschrank?“ Und bleibe er dort sogar bis zum Genuss und wandere dann in die gelbe Tonne? „Dann arbeiten Sie offensichtlich nicht als Mitarbeiter beim Umweltbundesamt. Denn in deren Welt landen Joghurtbecher auf der Straße.“
Minhoff spielt mit seinen Übertreibungen auf Entscheidungen des Umweltbundesamtes (UBA) zum sogenannten Einwegkunststofffonds-Gesetz an. Die Regelung soll das achtlose Wegwerfen von Plastikabfällen in die Umwelt begrenzen und nimmt dafür die Hersteller von entsprechenden Einwegprodukten in die Pflicht. Gemäß dem Verursacherprinzip sollen sie die Kosten für die Reinigung des öffentlichen Raums tragen und dafür Geld in einen Fonds einzahlen. Gemünzt ist dieses auf eine EU-Richtlinie zurückgehende Gesetz vor allem auf To-Go-Getränkebecher und Lebensmittel-Einweggeschirr wie Teller, Schalen und Behälter. Betroffen sind aber auch Plastiktüten und Folienbeutel, Zigarettenfilter, Feuchttücher und Luftballons, sowie perspektivisch Feuerwerkskörper. Und seit Jahresbeginn auch bestimmte Joghurtbecher.
Nach Ansicht des UBA gelten Polypropylen-Becher für Fruchtjoghurt mit einem Durchmesser von 75 Millimetern, einer Höhe von 101 Millimetern und einem Füllvolumen von 250 Millilitern als Lebensmittelbehälter im Sinne des Einwegkunststofffonds-Gesetzes. Festgesetzt wurde für diese Becher, die unbefüllt und ohne Deckel als industrielles Vorprodukt an Joghurt-Hersteller geliefert werden, eine Abgabe in Höhe von 177 Euro pro Tonne. „Für die Molkereien bedeutet das Millionensummen“, echauffiert sich BVE-Chef Minhoff. „Die Konsequenzen sind dramatisch. Joghurt-Produzenten müssen versuchen, die Kosten weiterzugeben. Gelingt das nicht, wird es für ertragsschwache Molkereien eng.“
Zumal noch weitere Sonderabgaben drohen. Denn das UBA hat im Oktober die „Allgemeinverfügung Giebelverpackung 1 Liter Milch“ erlassen. Danach wird auch der klassische Milchkarton als Produktart eingestuft, die künftig zum Geltungsbereich des Einwegkunststofffonds gehören soll.
Beim Milchindustrie-Verband (MIV) sorgt das für Unverständnis und Kritik. „Die Einstufungen gehen völlig am Ziel vorbei“, sagt MIV-Referentin Karin Monke gegenüber WELT. „Anlass für den Einwegkunststofffonds war mal der Müll, der an Stränden angespült wird. Joghurtbecher und Milchkartons waren dabei mit Sicherheit kein dringliches Problem.“ Ein Problem sieht Monke im sehr oberflächlich formulierten Gesetzestext. „Trotzdem ist es nicht zu verstehen, dass Joghurt im klassischen Becher als Mitnahmegericht eingestuft wird und der Ein-Liter-Milchkarton als To-Go-Format. Die Lebenswirklichkeit sieht jedenfalls komplett anders aus.“
Andere Bechergrößen könnten bald folgen
Das meint auch die sogenannte Einwegkunststoffkommission, die das UBA bei der Einstufung von Verpackungen berät. Sie besteht aus Experten aus Wirtschaft, kommunalen Spitzenverbänden, Verbraucherschutzorganisationen und Umweltverbänden. Und die haben der Behörde einstimmig empfohlen, den Literbehälter für beispielsweise frische Vollmilch nicht dem Fonds zuzuordnen, „da die Portionsgröße zu groß für den unmittelbaren Verzehr ist“.
Aber auch beim Joghurtbecher war die Kommission schon anderer Meinung als das UBA. Deren Experten zeigen sich unbeeindruckt. „Das Umweltbundesamt hat bei seinen Einordnungsentscheidungen die Empfehlungen der Einwegkunststoffkommission gewürdigt, ist jedoch wegen des Empfehlungscharakters nicht verpflichtet, deren Einschätzung zu folgen“, meldet das UBA auf WELT-Anfrage.
Die Behörde sieht die Einstufung von 250-Gramm-Joghurtbecher und 1-Liter-Milchkartons auf Linie mit den Produktanforderungen im Gesetzestext. „Insbesondere ist davon auszugehen, dass der Verzehr des Joghurts unmittelbar aus dem Becher erfolgt“, heißt es in der Stellungnahme. Dass die weitaus gängigeren kleinen Joghurtbecher ebenso nicht betroffen sind wie die 500-Gramm-Verpackungen, begründet das UBA damit, dass bislang nur ein Prüfauftrag für den 250-Gramm-Becher gestellt worden sei. Gut möglich also, dass auch diese Verpackungsarten perspektivisch ebenfalls betroffen sind. Beim Milchkarton wiederum wird auf eine Anlage im Gesetz verwiesen. Die sehe bei Getränkebehältern eine Obergrenze von drei Litern Inhalt vor, ohne dass es einer Betrachtung der Tendenz des achtlosen Wegwerfens bedarf.
Genau darauf pochen allerdings Verbände wie BVE, MIV oder die Industrievereinigung Kunststoffverpackungen (IK). „Das Gesetz erfasst nur solche Einweg-Behälter für Lebensmittel, die dazu bestimmt sind, unmittelbar nach dem Kauf verzehrt zu werden. Das heißt, das Lebensmittel muss für den Sofortverzehr konzipiert oder vorgesehen sein, wie bei Bratwurst, Pommes oder Coffee-to-go“, sagt IK-Hauptgeschäftsführer Martin Engelmann. Beim Fruchtjoghurt sei das anders. Der werde in der Regel zunächst nach Hause, zur Arbeitsstätte oder an andere Plätze gebracht, wo eine ordnungsgemäße Entsorgung der Verpackung – anders als beim Konsum außer Haus – gewährleistet sei. Gleiches gelte zudem für den Milchkarton, heißt es vom MIV. „Das Umweltbundesamt verunsichert gerade viele Industriezweige“, beklagt dessen Expertin Monke. „Eine Verbesserung des Umweltschutzes ist dagegen nicht einmal im Ansatz erkennbar.“
Auch IK-Chef Engelmann rechnet mit weiteren Streitfällen und einer eher weiten Interpretation von Geltungsbereichen durch das Umweltbundesamt. Zumal das EKWFondsG, wie das im Mai 2023 in Kraft getretene Gesetz abgekürzt wird, die Erwartungen bislang nicht erfüllt. „Offenbar wächst die Nervosität im UBA, dass die geplanten Einnahmen in Höhe von über 400 Millionen Euro weit verfehlt werden, weil sich bisher erheblich weniger Unternehmen registriert haben, als erwartet.“ Gemäß einem Forschungsprojekt im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens rechnet das UBA mit rund 55.000 registrierungspflichtigen Unternehmen, die in den Fonds einzahlen müssen, darunter neben Herstellern auch viele Metzgereien, Bäckereien und Cafés. Tatsächlich haben sich laut öffentlichem Register aber erst rund 2275 Betriebe angemeldet.
Engelmann vermutet nun entsprechenden Aktionismus bei der Behörde – und Folgen für etliche Bereiche, der Lebensmittelwirtschaft, die aus seiner Sicht eigentlich gar nicht betroffen sein sollten. „Dadurch, dass das UBA den Anwendungsbereich des Gesetzes – gegen den klaren Wortlaut – auf sämtliche Lebensmittel ausweiten will, die für den unmittelbaren Verzehr geeignet sind, würden sämtliche verzehrfertigen Lebensmittel im Supermarkt, wie Butter, Mozzarella, Feinkostsalate, Fleisch- und Wurstwaren, künftig sonderabgabenpflichtig und damit unnötig teurer.“
Folgen wird dann der Kampf um die Verteilung der Mehrkosten. „Die Verpackung wird teurer, also ist damit zu rechnen, dass es am Ende auch für den Verbraucher teurer wird“, prognostiziert MIV-Vertreterin Monke für die aktuellen Fälle Joghurtbecher und Milchkarton. Wobei die Verhandlungen mit dem Lebensmittelhandel schwer werden dürften. Landwirtschaftsverbände befürchten daher, dass auch die Milchbauern nicht verschont bleiben und aufgrund dieser Entwicklungen der Milchpreis gedrückt werden könnte.
BVE-Hauptgeschäftsführer Minhoff landet in seinem LinkedIn-Post daher auch einen Seitenhieb in Richtung Politik. „Es klingt es wie blanker Hohn, wenn der Bundeskanzler eine Mehrwertsteuer-Senkung für Lebensmittel vorschlägt, weil die ‚so teuer‘ geworden sind und gleichzeitig neue Abgaben durch eine Bundesbehörde umsetzen lässt“, kritisiert der Branchenvertreter. Diese Verteuerungsmaschine reihe sich ein in politische Entscheidungen die unmittelbar zu höheren Lebensmittelpreisen geführt haben: höhere Energiepreise, höhere Mautgebühren, komplizierte Lieferkettengesetze, höhere Berichts- und Registrierungspflichten, höherer Mindestlöhne. „Nur die Bundesregierung glaubt, dass sechsmal höher zusammengezählt weniger ergibt.“
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie über Recycling und Mittelstandsunternehmen.