Jedes Jahr werden weltweit Hunderte freiwillige Helfer in Krisengebieten entführt, verletzt oder getötet. Allein 2024 waren es laut UN-Behörden rund 300. BILD am SONNTAG erzählt vom Schicksal einer Krankenschwester.

Sonja Nientiet aus dem westfälischen Hamm wäre heute 54 Jahre alt – wenn sie noch lebt.

2018 wurde sie im Einsatz für das Deutsche Rote Kreuz im Bürgerkriegsland Somalia entführt. Zwei Jahre später sollte sie von einem Spezialkommando der Bundeswehr befreit werden – doch der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) machte in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung.

DIE ENTFÜHRUNG

Die Basisstation des Roten Kreuzes in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, liegt außerhalb der besonders geschützten „grünen Zone“, in der sich diplomatische Einrichtungen befinden. Sonja Nientiet hat am Abend des 3. Mai 2018 um 20 Uhr gerade Büroarbeiten abgeschlossen, als sie auf dem Gang von einem bewaffneten Bodyguard der Station gepackt wird. Der Mann schleift Nientiet zur Hintertür. Im Innenhof wartet ein Auto. Der Wachmann und ein Komplize zerren die Krankenschwester auf den Rücksitz und fahren davon. Der Wagen wird später ausgebrannt am Stadtrand von Mogadischu gefunden. Die Kidnapper und ihr Opfer bleiben verschwunden.

DAS LÖSEGELD

Tage später melden sich die Verbrecher, die offenbar der islamistischen Miliz Al-Shabab angehören. Sie verlangen für die Freilassung von Sonja Nientiet 20 Millionen US-Dollar, drohen mit der Ermordung ihrer Geisel oder dem „Weiterverkauf“ an die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS).

DIE MUTTER

in Hamm, der Heimat von Sonja Nientiet, zittert die Rentnerin Christel Nientiet um das Leben ihrer Tochter. Regelmäßig lässt sie sich vom Bundeskriminalamt unterrichten. Noch weiß die alte Dame nicht, dass sie ihre Liebste niemals wiedersehen wird. Was sie zunächst auch nicht erfährt: Im Krisenstab des Auswärtigen Amts in Berlin wird das Schicksal von Tochter Sonja emsig verfolgt. Der Bundesnachrichtendienst (BND) bittet unter anderem die amerikanischen Dienste CIA und NSA um Hilfe.

Das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr (KSK) studiert einen spektakulären Einsatz der Amerikaner, die 2012 zwei Landsleute aus der Geiselhaft in Somalia befreit hatten: Sieben Soldaten der Eliteeinheit Navy Seals, die nachts heimlich mit Fallschirmen gelandet waren, hatten die Kidnapper im Schlaf erschossen – mit jeweils zwei Schüssen in die Brust und einem Schuss in den Kopf.

DAS ERSTE LEBENSZEICHEN

Dem BND gelingt es, eine Verbindung zu den Geiselnehmern aufzubauen. Dies ist schwer genug, denn viele Trittbrettfahrer hatten sich zuvor gemeldet und fünfstellige Vorabhonorare gefordert.

Die Verbrecher übergeben über Mittelsmänner Haarbüschel von Sonja Nientiet für eine DNA-Probe, ebenso ein Video. Sonjas Mutter Christel identifiziert ihre Tochter in der Videoaufnahme: „Sie sah sehr bedrückt und erschöpft aus, hat mehrmals gesagt: ,Bitte, helft mir!‘“ Später muss die Krankenschwester für eine weitere Überprüfung ihrer Identität Fragen ihrer Familie in Hamm beantworten, zum Beispiel: „Wie hieß der Vater mit zweitem Vornamen?“ Alle Antworten sind korrekt.

DER DURCHBRUCH

Nach zwei Jahren gelingt es dem BND, durch den intensiven Einsatz seiner Funkspionage, den Ort zu ermitteln, an dem Sonja Nientiet festgehalten wird. Jetzt kann die Befreiung geplant werden.

DAS TRAINING

Das KSK, spezialisiert auf Geiselbefreiungen weltweit, nimmt Fahrt auf. Die Amerikaner liefern Satelliten-Aufnahmen und Operationsberichte von früheren Einsätzen, aus Marokko kommen Geheimdienst-Berichte über die Terrormiliz Al-Shabab. Sogar der damalige KSK-Kommandeur Markus Kreitmayr reist undercover nach Mogadischu. Die Amerikaner erklären sich bereit, dem KSK für eine Befreiungsaktion die dafür geeigneten Hubschrauber Sikorsky UH-60/Black Hawk zur Verfügung zu stellen.

DIE ABSAGE

Der damalige Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Gerd Hoofe, wird in die konkrete Planung zur Befreiung von Sonja Nientiet eingeweiht, gibt für die Operation grundsätzlich grünes Licht. Doch dann der Schock für alle im Krisenstab: Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD), der bei Entführungen von Deutschen im Ausland die Entscheidungsgewalt hat, stoppt alle Pläne. Er befürchtet, die Operation könnte in einem Blutbad und mit dem Tod der Geisel enden.

Seitdem gibt es im Fall Sonja Nientiet trotz aller Bemühungen der Dienste keine Hinweise mehr, die zu einer Freilassung der Frau beitragen könnten.

Christel Nientiet spricht weiter einmal im Monat mit den beiden für sie zuständigen BKA-Beamtinnen, betet jeden Tag für ihre Tochter. „Wenn Sonja eines Tages doch zurückkommen sollte, dann machen wir erst mal Urlaub auf Langeoog.“

Daraus wird nichts. Am 25. Juni 2024 stirbt Christel Nientiet, sie wurde 84 Jahre alt. Ob sie ihre Tochter überlebt hat, hat sie nie erfahren.