Die Weihnachtsgurke – deutsche Tradition oder amerikanischer Mythos?

An deutschen Christbäumen hängt sie selten, und doch soll sie von hier stammen: Um die Geschichte der Weihnachtsgurke ranken sich mehr Mythen als um das Bernsteinzimmer.

Einer der letzten deutschen Glasbläser für Weihnachtsschmuck, Michael Haberland aus dem thüringischen Lauscha, findet eine Erzählung aus dem US-Bürgerkrieg (1861 bis 1865) glaubwürdig: „Es geht darum, dass ein deutscher Auswanderer, schwer verwundet, als letzte Mahlzeit eine deutsche Gewürzgurke essen wollte. Irgendwie haben seine Kameraden ein ganzes Glas aufgetrieben. Und als der Soldat alle Gurken verputzt hatte, wurde er wieder gesund. Deshalb hängten sich die Amerikaner eine Gurke als Glücksbringer in den Weihnachtsbaum.“

Eine andere Überlieferung geht so: Der amerikanische Kaufhausgründer Frank Winfield Woolworth importierte in den 1880er-Jahren gläsernen Christbaumschmuck aus Lauscha. Um die Waren in den USA unter die Leute zu bringen, erfand er die Geschichte, dass die Deutschen sich eine Gurke an den Weihnachtsbaum hängen. Wer die Gurke als Erster entdecke, bekomme ein Geschenk mehr.

Den Brauch haben die Amerikaner gern kopiert, heute gehört die „Christmas Pickle“ in vielen US-Haushalten zur Tradition. Diese Geschichte hat Haberland in den USA gehört. „Da weiß jeder Amerikaner, dass sich die Deutschen eine Gurke in den Baum hängen. Nur bei uns weiß es kaum jemand.“

Auch Klaus Müller-Blech, in 15. Generation Chef der Manufaktur Inge Glas aus Neustadt bei Coburg in Oberfranken, hat eine Anekdote dazu: Von Kunden erfuhr er, dass sie als Kinder bei der Großmutter in Schlesien so eine Gurke im Baum gesehen hätten. „Es spricht viel dafür, dass die Gurke aus Glas in Lauscha erfunden wurde. Es gab dort ja auch Nüsse oder Tannenzapfen“, sagt Müller-Blech. Das bestätigt Glasbläser Haberland. Sein Urgroßvater stellte vor 90 Jahren eine Gurke aus Glas her. „Ich habe nämlich noch die Form von ihm.“

Ob Gurke oder Kugel: Lauscha gilt als die Wiege des gläsernen Weihnachtsschmucks. Urkundlich dokumentiert ist das Jahr 1848, als im Auftragsbuch eines dortigen Glasbläsers erstmals eine Bestellung über sechs Dutzend Weihnachtskugeln in verschiedenen Größen vermerkt wurde.

Laut des Museums für Glaskunst Lauscha entwickelte sich bis zur Jahrhundertwende eine blühende Wirtschaft um die glänzende Baumdekoration. Im März wurde die Herstellung von mundgeblasenem gläsernen Lauschaer Christbaumschmuck sogar in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

Heute werde unser Weihnachtsschmuck überwiegend in China hergestellt, sagt Stephan Ryll, Organisationsvorstand bei der Firma Kaiser Lacke aus Nürnberg. Das Unternehmen stellt die Speziallacke für Kugeln und Figuren her. „Vor rund 20 Jahren hat es begonnen, dass in China große Mengen Christbaumkugeln gefertigt wurden. Vorher war gerade Thüringen sehr bekannt für seine Glaskunst.“

Durch die Massenproduktion in China hätten sich deutsche und europäische Hersteller neu orientieren müssen und würden nun verstärkt handbemalte Handwerkskunst anbieten. An zweiter Stelle stehen in der Statistik die Niederlande. Doch das Land produziere den Baumschmuck nicht selbst, sagt Inge-Glas-Chef Müller-Blech, sondern importiere ihn ebenfalls aus China und verkaufe ihn weiter.

Müller-Blech leitet zusammen mit seiner Frau eine Firma, die auf 15 Generationen Glasbläser zurückblicken kann. Oberfranken habe sich nach dem Krieg als Glasbläser-Standort etabliert, weil viele Glasbläser aus Lauscha oder Jena die DDR verlassen hatten und sich dort niederließen. Von Neustadt in Bayern bis Lauscha im Thüringer Wald sind es rund 55 Kilometer.

Bei Inge Glas gibt es zwei Produktlinien: die in Neustadt mundgeblasenen und handbemalten Manufakturkugeln. Und die importierten. Diese Linie heißt Magic. „Eine Magic-Kugel ist etwa dreimal so schwer wie eine aus der Manufaktur“, sagt Müller-Blech. Denn die handgemachte sei viel zarter. Das sei bei dünnen Ästen von Vorteil, denn dann würden sie nicht so schnell durchhängen. Allerdings kostet eine Manufakturkugel auch dreimal so viel wie eine aus China.

Die Farbe der Kugeln kommt fast immer von Kaiser. „In diesem Jahr war der meistverkaufte Lack Weiß matt, direkt gefolgt von Rot glänzend“, sagt Ryll. Sonst gebe es eine breite Farbpalette – größtenteils im Bereich der Erdtöne. „Noch vor zehn Jahren waren die meisten Kugeln eher schlicht, genauer gesagt, einmal getaucht ohne weitere Verzierungen, aber hier ist eine Trendwende zu erkennen. Derzeit werden wieder viele Kugeln per Hand verziert. Da gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten wie Lacke zum Bemalen, Kleber um nachträglich Glitzer aufzubringen.“

Für Weihnachten seien die Kollektionen schon fertig. Wie die aussehen, will er nicht verraten. Doch ein Element wird wohl auch im kommenden Jahr international gefragt bleiben: die Weihnachtsgurke. Bei Inge Glas gibt es sie in drei Größen. „Wir können uns einfallen lassen, was wir wollen“, sagt Müller-Blech. „Der Renner ist immer die Weihnachtsgurke.“

Dieser Artikel wurde erstmals im Dezember 2021 veröffentlicht.