Geht es nach Quadratkilometern, dann hatte Russland im Dezember weniger Erfolge an der Front in der Ukraine als im Monat zuvor. Hatte das russische Militär mit mehr als 700 eroberten Quadratkilometern im November die größten monatlichen Fortschritte seit Kriegsbeginn gemacht, sind es in den ersten beiden Dezemberdritteln bislang 280 Quadratkilometer. Ein deutlicher Rückgang.
Doch der Blick auf die Entwicklung des Frontverlaufs zeigt: Dass die russischen Soldaten weniger Gebiete einnahmen, dürfte eher taktische Gründe haben, als der Erschöpfung der Angreifer geschuldet sein. Zwar setzte Russland in den vergangenen Wochen nach ukrainischen Angaben deutlich weniger Gleitbomben an der Front ein als zuvor. Doch die täglich aus Kyjiw gemeldete Zahl der Angriffe und auch die (mutmaßlich geschönten) Angaben zu den russischen Verlusten haben sich kaum verändert.
Anstelle eines Frontalangriffs auf die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk hat Russland in den vergangenen Wochen die Frontlinie südlich davon ausgeweitet und teilweise begradigt. Die Verteidiger der Stadt sehen sich nun nicht mehr einem einzelnen Vorstoß gegenüber, dessen Spitze mehrere Kilometer vor Pokrowsk liegt, sondern einem mehr als 30 Kilometer breiten Frontabschnitt, hinter dem Russland seine Kontrolle zuletzt festigen konnte.
Die Linie verläuft knapp drei Kilometer südlich von Pokrowsk. Damit ist die Stadt in Reichweite selbst kleinerer Artilleriesysteme. Die Versorgungsstraße, die durch Pokrowsk verläuft, kann jederzeit mit FPV-Drohnen angegriffen werden, mit denen beide Kriegsparteien Jagd auf gegnerische Soldatentransporte machen.
Die herannahenden Kämpfe beeinträchtigten schon längst das Funktionieren der Stadt. Der Vormarsch bedroht aber auch die ukrainische Wirtschaft auf nationaler Ebene.
Von drei Minen für Kokskohle, die bei Pokrowsk liegen, musste vergangene Woche eine schließen, „weil die Frontlinie näher rückt und der Beschuss sich verstärkt“, wie der Eigentümerkonzern mitteilte. Die Mine
liegt beim Dorf Pischtschane, zu dem Zeitpunkt 1,5 Kilometer nördlich der Front und inzwischen in russischer Hand.
Zwei
weitere Minen sind demnach noch intakt, liegen aber auch in der Nähe der Front. Laut
ukrainischen Berichten liegen dort mehr als 200 Millionen Tonnen
Kokskohle, die zur Stahlproduktion benötigt wird, in der Erde. Würden
die Minen an Russland fallen, würde die jährliche Stahlproduktion in der
Ukraine von 7,5 Millionen Tonnen auf zwei bis drei Millionen Tonnen
einbrechen, warnen Vertreter der Industrie. Dabei war für das kommende Jahr eigentlich eine Steigerung auf zehn Millionen Tonnen geplant.
Zu den härtesten Kämpfen kam es in den vergangenen Wochen offenbar nicht nur unmittelbar bei Pokrowsk, sondern auch etwa 30 Kilometer südlich. Dort verteidigen die ukrainischen Truppen das Gebiet um die Stadt Kurachowe, die inzwischen größtenteils von Russland eingenommen wurde. Bei Kurachowe sollen ukrainische Einheiten wegen der Weigerung der Führung, sie abzuziehen, eingekreist worden sein. Das berichtet das Portal DeepState, das dem ukrainischen Militär nahesteht.
Der für den Abschnitt zuständige Verband dementierte das: Die Einheiten hätten sich nach entsprechender Entscheidung der Führung zurückgezogen, teilte er mit. Ob das stimmt oder nicht, ist kaum unabhängig prüfbar. Ähnliche Anschuldigungen von DeepState gab es bereits zuvor. Dass der Kanal in der Ukraine großes Vertrauen genießt, sollte zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihn Militärs nutzen könnten, um die Lösung interner Streitigkeiten über Umwege öffentlich zu erzwingen.
Das Militärkommando reagierte auf die Situation in Donezk mit der Entlassung des Kommandeurs der zuständigen Heeresgruppe. Doch Personalwechsel ohne systematische Veränderungen gab es seit Kriegsbeginn in vielen Bereichen des Militärs mehrfach. Ein ehemaliger General kritisierte das zuletzt mit harten Worten: Die neuen Kommandeure seien für ihre Aufgaben häufig noch nicht bereit, die Personalwechsel seien Aktionismus.
Entgegen den Ankündigungen von Militärchef Oleksandr Syrskyj werden kaum noch haltbare Positionen derzeit offenbar weiterhin verteidigt, bis es für einen Abzug zu spät ist. Nach seiner Ernennung im Frühjahr hatte Syrskyj angekündigt, solche Stellungen künftig früher aufgeben zu wollen, um die Verluste zu begrenzen. Inzwischen spricht er lediglich von einer „besonders schwierigen“ Lage bei Pokrowsk – und sicherte zu, die Militärführung bereite sich auf „alle möglichen Varianten“ der kommenden russischen Angriffe vor.
Geboten wäre es. Denn während die seit mehr als einem Jahr laufende russische Donezk-Offensive international im Fokus steht, steigt die Gefahr einer Ausdehnung des Vormarsches auf weitere Regionen. Als Anfang Oktober die Stadt Wuhledar im Südwesten Donezks an Russland fiel, sprachen die meisten Beobachter dem keine größere strategische Bedeutung zu. Dennoch stieg die Sorge, von Wuhledar aus könne Russland sowohl nördlich in Richtung Pokrowsk weiter angreifen – als auch westlich in Richtung der benachbarten Region Saporischschja.
Letzteres ist inzwischen eingetreten. Die Siedlung Welyka Nowosilka, 30 Kilometer westlich Wuhledars, war im vergangenen Jahr einer der Ausgangspunkte der ukrainischen Sommeroffensive. Dort lagen die wenigen Ortschaften, die das ukrainische Militär befreien konnte. Inzwischen jedoch sind die meisten der Dörfer wieder unter russischer Kontrolle. Welyka Nowosilka droht angesichts des sich östlich des Ortes aufbauenden russischen Kontingents ebenfalls eingekreist zu werden.
Käme es so, wären auch die ukrainischen Stellungen in der Region Saporischschja
bedroht. Dort soll Russland derzeit Verbände für einen Großangriff
aufbauen. Belege dafür gibt es bislang nicht, die Warnung davor klang während des gesamten Jahres aber immer wieder an. Schon eine
glaubwürdige Bedrohung des Gebiets würde eine psychologische Wirkung entfalten:
Stand Saporischschja 2023 noch für die Hoffnung auf eine Kriegswende,
könnte das Gebiet nun die Liste der Frontabschnitte verlängern, in denen Russland
auf dem Vormarsch ist.
Zum Bau von Verteidigungsanlagen in der
nördlicher liegenden Region Dnipropetrowsk, wo es seit Kriegsbeginn
keine Bodenkämpfe gab, riefen ukrainische Offiziere schon vor Wochen auf. Und in der Region Cherson weiter im Westen sollen russische Einheiten laut ukrainischen Militärbloggern in der Nacht zum Freitag versucht haben, am westlichen Ufer des Dnipro zu landen. Der breite Fluss, der 2023 die russischen Eroberungen vor ukrainischen Gegenoffensiven schützte, schützt nun die Verteidiger Chersons vor der Aussicht auf eine erneute Besatzung durch Russland.
Weder Dnipropetrowsk noch West-Cherson sind derzeit ernsthaft von Bodenangriffen bedroht, und auch nicht Saporischschjas gleichnamige Regionalhauptstadt, die Wladimir Putin ebenfalls für sich beansprucht. Doch falls es dem russischen Präsidenten darum geht, seine Position im Vorfeld des anstehenden Regierungswechsels in den USA möglichst stark aussehen zu lassen, dann läuft es für ihn derzeit gut. In Donezk und im russischen Grenzgebiet Kursk kommen seine Truppen stetig voran, um weitere Gebiete muss die Ukraine fürchten.
Die Initiativen für einen Waffenstillstand, die derzeit auch von proukrainischen Regierungen öffentlich diskutiert werden, sehen vor, die Frontlinie einzufrieren. Doch Putin bewegt sie derzeit jeden Tag. Dafür, dass er auf absehbare weitere Eroberungen verzichtet, gibt es derzeit wenig Hoffnung. Oder, wie es sein UN-Gesandter Sergej Nebensja am Dienstag im UN-Sicherheitsrat sagte: „Keinerlei Deals über ein Einfrieren des Konflikts werden Russland zufriedenstellen.“ Ein siegesgewisser Ton. Die Situation an der Front rechtfertigt ihn mindestens aus russischer Sicht.
Das Zitat: Putin und die Synagoge
Der russische Präsident zeigt sich immer wieder als Verteidiger religiöser Werte und pflegt ein enges Verhältnis zu Patriarch Kyrill, dem Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche. Diese ist in der Ukraine verboten, denn die Kirche bezeichnete den Krieg gegen das Land als „heilig“ und stützt die Propaganda der Angreifer.
Über das ukrainische Vorgehen gegen russischen Einfluss in den Kirchen des Landes echauffierte sich Putin während seiner mehrstündigen Jahrespressekonferenz am Donnerstag. Die Verbote stellten einen „gröbsten Menschenrechtsbruch“ dar, sagte er. Die Ukraine werde von „gottlosen Menschen“ beherrscht. Ohne Selenskyjs Namen zu erwähnen, sagte er mit Blick auf die jüdische Herkunft des ukrainischen Staatschefs:
Putin hat sich schon mehrfach abschätzig über Selenskyjs jüdische Herkunft geäußert. So bezeichnete er ihn im Juni 2023 als „Schande des jüdischen Volks“. Im September 2023 sagte er, der Westen habe absichtlich einen „ethnischen Juden an die Spitze der Ukraine gestellt“, um ein angebliches Nazi-Regime in dem Land zu verschleiern.
Die wichtigsten Meldungen: Nordkorea, Nato und ein toter General
- Nach ukrainischen und US-amerikanischen Angaben wurden bei den russischen Gegenangriffen in der Grenzregion Kursk Hunderte nordkoreanische Soldaten getötet oder verletzt. Videos zeigten zuletzt, wie die mutmaßlichen Nordkoreaner erstmals seit ihrer Entsendung nach Russland offenbar in größerer Zahl im Kampf eingesetzt wurden.
- Die neue Nato-Behörde für Ukrainehilfen hat ihre Arbeit aufgenommen. Das sogenannte NSATU-Kommando mit Sitz in Wiesbaden soll Waffenlieferungen und Soldatentrainings koordinieren. Damit übernimmt es die Rolle der von den USA geführten Ramstein-Gruppe. Hintergrund sind Sorgen vor einem möglichen US-Rückzug aus dem Format nach der Amtseinführung von Donald Trump.
- Bei einem Sprengstoffanschlag wurde in Moskau General Igor Kirillow getötet,
der unter anderem für den Schutz gegen Massenvernichtungswaffen
zuständig war. Zuvor hatte die Ukraine ihm vorgeworfen, für den Einsatz von chemischen Kampfstoffen in der Ukraine verantwortlich zu sein. Russland spricht bei Kirillows Tötung von einem Terroranschlag.
Waffenlieferungen und Militärhilfen: Boote, Drohnenabwehr und Marder
- Großbritannien hat der Ukraine ein Hilfspaket im Wert von umgerechnet 270 Millionen Euro zugesagt. Es umfasst nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums Aufklärungsdrohnen, Boote, Radare, Elektronik zur Drohnenabwehr und Sprengladungen für Artilleriemunition.
- Norwegen will die ukrainische Marine mit Mitteln im Wert von knapp 230 Millionen Euro stärken. Neben der Lieferung nicht genannter Waffen soll damit auch die Räumung von Seeminen entlang der Küste finanziert werden.
- Ein Hilfspaket aus Dänemark im Wert von 280 Millionen Euro umfasst nach dänischen Angaben Ausrüstung zur Wartung von F-16-Kampfjets und nicht genannte Flugabwehrwaffen. Zusammen mit Schweden will Dänemark zudem die Beschaffung weiterer Schützenpanzer vom Typ CV-90 finanzieren.
- Der Rüstungskonzern Rheinmetallbereitet nach eigenen Angaben20 weitere Schützenpanzer-Marder für die Ukraine vor. Die Bundesregierung hat bisher 140 Panzer des Typs bereitgestellt, eine Lieferung von 20 weiteren Einheiten war bislang nicht angekündigt. Dem Konzern zufolge sollen sie in der ersten Jahreshälfte 2025 in der Ukraine ankommen.
Der Ausblick: Trumps Bote soll nach Kyjiw kommen
Die Ernennung von Keith Kellogg zu Donald Trumps Sonderbotschafter für die Ukraine hatte Ende November für Aufmerksamkeit gesorgt. Während Trump sich nur vage zur Ukraine äußerte und Vertraute wie J. D. Vance und Elon Musk sich mehrfach öffentlich abschätzig über das Land äußerten, legte Kellogg seine Gedanken zur Lösung des Konflikts im April in einem Strategiepapier differenzierter dar.
Wenige Tage nach Kelloggs Nominierung hatte eine ukrainische Delegation,
angeführt von Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak, in den USA mit dem neuen Sonderbotschafter gesprochen. In Kürze soll der Besuch offenbar erwidert werden: Das ukrainische Außenministerium hat einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters bestätigt, wonach Kellogg im Januar nach Kyjiw reisen soll.
Inwiefern bei den dortigen Gesprächen dessen Vorschläge vom April
aufgegriffen werden, ist unklar – ebenso die Frage, ob sich Trumps
Vorstellungen überhaupt an dem Strategiepapier orientieren.
Darin hatte Kellogg die Ukrainepolitik von Joe Biden kritisiert. Einerseits folge sie keiner diplomatischen Strategie, andererseits werde die Ukraine nur begrenzt mit Waffen unterstützt. Kellogg schlug vor, die Waffenlieferungen an die Ukraine nach einem Waffenstillstand aufrechtzuerhalten und auf diese Weise die vom Land geforderten Sicherheitsgarantien zu erfüllen – und andererseits auf russische Forderungen einzugehen. So solle die Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten.
In einem solchen Szenario würde das Land die derzeit von Russland besetzten Gebiete verlieren, müsste sie aber nicht endgültig abtreten, sondern nur darauf verzichten, sie zurückerobern zu wollen. Als Druckmittel für eine künftige russische Regierung nach Putin sollten Sanktionen aufrechterhalten werden, bis ein Friedensvertrag, der auch in Kyjiw Zustimmung findet, unterzeichnet ist.
Über den Tellerrand: Raketen und offene Fragen
- : Seit einem Monat greift die Ukraine Ziele in Russland mit US-Raketen und britischen Marschflugkörpern an. Das exilrussische Onlinemedium hat einen Überblick über die Einsätze der zuvor lange umstrittenen Waffen erstellt.
- : Einen öffentlich bekannten „Trump-Plan“ für Frieden in der Ukraine gibt es bisher nicht. Berichte über dessen Bestandteile zeichnen ihn als Versuch, Druck auf beide Kriegsparteien auszuüben. Das Portal stellt Fragen, die ein solcher Plan beantworten müsste, um realistisch zu sein.