Europa ist für den größten privaten Energiekonzern der Welt ein traditionsreicher Standort. Aber nicht unbedingt einer mit Zukunft: ExxonMobil hat seine Investitionen hier drastisch reduziert. Im Gespräch mit WELT AM SONNTAG erklärt Philippe Ducom, Europa-Chef von ExxonMobil, die Gründe. Er erwartet von der EU-Kommission rasche Reformen.
WELT: Herr Ducom, ExxonMobil ist an der Börse mehr als eine halbe Billion Dollar wert und damit der größte private Energiekonzern der Welt. Welche Rolle spielt der europäische Markt für das Unternehmen?
Philippe Ducom: Wir versorgen seit 135 Jahren Menschen und Unternehmen in Europa mit Kraftstoffen und chemischen Grundprodukten. Jeder Fünfte unserer 62.000 Leute arbeitet in Europa. Die Bedeutung des Standortes zeigt auch die Tatsache, dass wir hier in den vergangenen zehn Jahren rund 20 Milliarden Euro investiert haben.
WELT: Allerdings will die Europäische Union loskommen von Öl und Gas, ihrem Kerngeschäft.
Ducom: Wir wollen das Klima ebenfalls schützen. ExxonMobil plant, die Scope-1- und Scope-2-Emissionen in den selbst betriebenen Anlagen bis 2050 netto auf null zu senken. Jeder Produktionsstandort hat einen Fahrplan, um dieses Ziel zu erreichen. Unsere Raffinerien zählen heute bereits zu den zehn Prozent der effizientesten Verarbeitungsbetriebe in Europa. Weltweit investiert ExxonMobil im Zeitraum 2022 bis 2027 rund 20 Milliarden US-Dollar in klimafreundliche Technologien. Es geht unter anderem um Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe, Kohlenstoff-Abscheidung und Speicherung (CCUS) und um Batterierohstoffe für die Elektromobilität.
WELT: Welcher Teil der 20 Milliarden US-Dollar Umwelt-Investitionen fließt nach Europa?
Ducom: Praktisch nichts. Im Augenblick konkurriert der Standort Europa nicht um unsere Investitionen in klimafreundliche Produkte und Technologien. Ich bedaure, das so hart sagen zu müssen: Europa ist für uns als Investor nicht attraktiv. Wir können sehr viel mehr für den Klima- und Umweltschutz erreichen und profitabler arbeiten, wenn wir das Geld anderswo investieren.
WELT: Eine Region, in der ExxonMobil 20 Prozent seiner Mitarbeiter beschäftigt, bekommt Null Prozent Zukunftsinvestitionen? Was genau macht den Standort dermaßen unattraktiv?
Ducom: In einem Wort zusammengefasst: Es ist die Bürokratie. In der EU haben wir ein komplexes und sich ständig änderndes Regulierungsumfeld. Hinzu kommen hohe Compliance-Kosten und strenge Offenlegungspflichten. Das schreckt viele langfristige Investoren ab, auch uns. Diese Missstände entziehen der Forschung und Entwicklung dringend notwendige Mittel und gefährden das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union.
WELT: Haben Sie ein Beispiel?
Ducom: Die Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit ist ein Paradebeispiel für die Komplexität, den Aufwand und die verwirrende Überschneidung von Regulierungen, mit denen große Unternehmen in der EU derzeit konfrontiert sind. Sie wird sich insofern auf Muttergesellschaften außerhalb der EU auswirken, als die EU-Kommission sogar detaillierte Nachweise und Berichte verlangen würde, wenn wir in Australien Gas für den australischen Markt produzieren. Das sieht die Lieferkettenrichtlinie so vor. Das zeigt beispielhaft einen im Wortsinn globalen, alle Maßstäbe sprengenden Anspruch auf Kontrolle und Regulierung.
Brüssel gibt auch fast unüberschaubare Auflagen und Einschränkungen vor, wenn es um Klimatechnologien geht, sei es bei der Wasserstoffproduktion, bei synthetischen Kraftstoffen oder der Kohlendioxid-Speicherung, CCS. Unternehmen wie ExxonMobil suchen sich dann eben andere Orte, wo sie investieren. Es ist kein Wunder, dass Europa in all diesen Bereichen den Anschluss verliert an andere Wirtschaftsräume wie USA oder China.
WELT: Das Problem ist ja erkannt. Der sogenannte Draghi-Report hat der EU-Kommission aufgezeigt, welches Wachstumshemmnis die Bürokratie ist.
Ducom: Draghi hat der EU-Kommission geraten, der Wirtschaft mindestens 25 Prozent ihrer Berichtspflichten zu erlassen. Insbesondere sollte sie neue bürokratische Monster wie die Nachhaltigkeits- und Due-Diligence-Richtline verschieben und zumindest deutlich entschlacken. Ich kann Draghis Empfehlung nur unterstützen: Anstatt Unternehmen mit immer mehr Bürokratie zu belasten, sollte die EU innehalten, nachdenken und sich auf das besinnen, was Unternehmertum in Europa attraktiv macht. Dazu gehört auch, ein stabiles, planbares Abgaben-Regime einzuführen, anstatt ständig direkt oder indirekt mit der Einführung von Übergewinn-Steuern zu drohen.
WELT: Immerhin will die EU-Kommission hiesige Produzenten, die teure Umweltauflagen erfüllen, vor der Dumping-Konkurrenz aus Übersee schützen: Billige, klimaschädlich hergestellte Ware zum Beispiel aus China soll mit einer CO₂-Abgabe, praktisch einem Zoll, belegt werden. Dieser Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM, sorgt für Kostengleichheit.
Ducom: Der CBAM genannte Außenzoll der EU verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produkte allerdings nur innerhalb des europäischen Marktes. Wenn Unternehmen aus Europa heraus exportieren wollen, sind sie auf dem Weltmarkt im Kostenwettbewerb weiter unterlegen. Man muss deshalb weiterhin damit rechnen, dass exportorientierte Unternehmen die EU verlassen werden. Damit aber werden Emissionen künftig nur verlagert, nicht verhindert. Was in der EU-Strategie also fehlt, ist ein Mechanismus, der die klimapolitischen Mehrkosten europäischer Produzenten beim Export ausgleicht.
WELT: Es fällt auf, dass Deutschland schon 2045 klimaneutral sein will, die Europäische Union 2050, Indien aber erst 2060 und China im Jahre 2070. Berücksichtigt Ihre Strategie-Abteilung in Houston/Texas diese regional unterschiedlich ausgeprägten Ambitionen beim Verteilen des Investitionsbudgets?
Ducom: In einer Region, die besonders früh Klimaneutralität erreichen will, müssten die Bedingungen für Investments in grüne Technologie ja eigentlich am besten sein. Doch gerade dies ist hier nicht der Fall. Investoren bleiben ausgerechnet dem hoch ambitionierten Europa fern. Das ist ein Indiz mehr für die desaströse Wirkung der Bürokratisierung in der EU, vielleicht auch für die grundsätzlich skeptische Haltung eingriffsfreudiger Politiker gegenüber dem Markt.
WELT: ExxonMobil will seine 25-Prozent-Beteiligung an der größten deutschen Raffinerie MIRO in Karlsruhe abstoßen und sich damit komplett aus der Rohölverarbeitung in Deutschland verabschieden. Hat diese Entscheidung mit dem regulatorischen Umfeld in Deutschland oder Europa zu tun?
Ducom: Für solche Entscheidungen gibt es immer eine ganze Reihe von Gründen, die zusammenwirken. Richtig ist natürlich, dass wir bei der Transformation unseres Geschäfts in Richtung Klimaneutralität auswählen und priorisieren müssen. Aktuell gibt es noch 86 Raffinerien in Europa, und 2040 werden das sicher sehr viel weniger sein. Die Frage ist also: Welche davon dekarbonisieren wir?
WELT: ExxonMobil weitet die Öl- und Gasförderung eher noch aus, auch andere Mineralölkonzerne haben solche Pläne bekanntgegeben. Kritiker werfen der Branche deshalb vor, nicht ehrlich zu sein. Schließlich dürfte nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur eigentlich ab sofort kein einziges neues Öl- oder Gasfeld mehr erschlossen werden, wenn die Erderwärmung noch auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden soll.
Ducom: Wenn wir sofort aufhören würden, in die Öl- und Gasförderung zu investieren, würde die Produktion bereits im ersten Jahr um 15 Prozent zurückgehen. Das ist sehr viel. Die Auswirkungen auf die Energiepreise wären enorm – und würden alle Verbraucher von Benzin, Diesel, Heizgas oder Heizöl stark belasten. Die sozialen und politischen Folgen wären unabsehbar.
WELT: Dann ist Klimaschutz zum Scheitern verurteilt, weil er sozial und politisch nicht durchzuhalten ist?
Ducom: Ich bin davon überzeugt, dass die Dekarbonisierung davon abhängt, wie wir die Verbraucher von grünen Produkten überzeugen. Wir wissen, wie wir das schaffen können. Was aber nicht funktionieren wird ist, die grüne Transformation durch die künstliche Angebots-Verknappung fossiler Energien auszulösen. Denn das sind essenzielle Produkte für die Gesellschaft, in jedem Bereich. Wir müssen einen Weg der Transformation finden, der nicht auf Verringerung des Angebots basiert, sondern auf Anreize zur Änderung des Nachfrageverhaltens.
Daniel Wetzel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Energiewirtschaft, Energiepolitik und Klimapolitik.