Die Szene ereignete sich beim Parken seines Paketwagens. Ein Autofahrer regte sich lautstark über den Hermes-Wagen auf, rannte auf den Paketfahrer zu und schubste ihn. „Dann stand er vor mir und spuckte mich an. Nur weil ich mich wegduckte, erwischte er mich nicht im Gesicht, sondern auf meiner linken Schulter“, sagt der Hermes-Fahrer. Es kam zu Pöbeleien, der Passant rauschte in seinem Auto davon.
Der Paketbote, ein Mann aus dem Iran, der seit 15 Jahren für Hermes in Hamburg Pakete ausfährt, notierte sich das Kennzeichen. Als er abends wieder zu Hause war, fehlte ihm die Energie, noch Anzeige bei der Polizei zu erstatten.
Herablassend sei das Verhalten mancher Kunden, erzählt der Iraner, der seit 25 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Dass ihm jemand den Stinkefinger zeigt, ist Alltag. Dass ihm jemand im Hausflur eines mehrstöckigen Wohnhauses ein Paket von der Sackkarre raubt, war an diesem Tag neu für ihn. „Man verliert schon mal das Vertrauen in die Menschheit“, sagt der Fahrer, der seinen Namen nicht veröffentlicht wissen will. Heftige Wortgefechte gebe es immer wieder. Eine Backpfeife von einem erbosten Paketempfänger habe er aber noch nicht bekommen – wie es einem Kollegen gerade passiert sei.
Jeden Tag sind Zigtausend Paketboten auf deutschen Straßen unterwegs, allein bei DHL, der Tochtergesellschaft der Deutschen Post, gibt es 37.000 Paketfahrer, bei Hermes sind es in der Hochsaison 13.500. Jeden Tag liefern sie Millionen Pakete an den Adressen ab. Werden es in diesem Jahr rund 4,2 Milliarden Paket- und Kuriersendungen sein, so rechnet der Bundesverband Paket- und Expresslogistik für das Jahr 2028 schon mit rund 4,7 Milliarden Sendungen. Bei diesem deutlichen Anstieg wird klar: Bei dieser Arbeit wird der Umgangston rauer, die Hemmschwellen sinken.
Die Gewerkschaften sorgen sich um diese Entwicklungen. „Die verbale Gewalt gegen die Beschäftigten der Paketdienste nimmt zu. Es kommt immer wieder zu rassistischen oder sexistischen Verbalattacken“, sagt Christina Dahlhaus, Vorsitzende der Fachgewerkschaft DPVKOM. Unreflektiertes Pöbeln sei salonfähig geworden. Bei DHL gab es in Berlin den Fall, dass ein Fahrer ins Krankenhaus musste, weil ein Kunde ihn schlimm verprügelt hat. Viele schmeißen auch wegen solcher Vorkommnisse ihren Job hin.
Die Fahrt mit DHL-Fahrer Eric Belle geht durch Berlin-Neukölln, gleich die erste Zustelladresse ist ein Wohnhaus mit sieben Stockwerken ohne Fahrstuhl. „Es gibt Kunden, die machen die Wohnungstür auf, nehmen mir das Paket aus der Hand und knallen die Tür zu, ohne auf meinem Handscanner zu unterschreiben“, erzählt er. Wieder andere malten statt des Namens einen Strich oder ein Smiley-Symbol auf das Gerät.
Der Fahrer braucht jedoch korrekte Angaben als Nachweis für seine Zustellung. „Wenn ich bei der Paketübergabe keine Unterschrift bekomme und der Kunde die Tür zuschlägt, dann rufe ich schon mal die Polizei.“ Belle ist Franzose, seit vier Jahren arbeitet er als Paketfahrer. Davor war er in guter Stellung in einem Restaurant tätig, bis ihn die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen den Job kostete.
Räuber passen die Paketboten ab
In der Berliner Niederlassung von DHL, aus der der Fahrer nach dem Beladen um 8 Uhr gestartet ist, arbeiten Beschäftigte aus 82 Nationen. Die Boten fahren im Durchschnitt 150 Pakete an 60 bis 90 Zustelladressen aus. Die Route wird anhand der Sendungsdaten berechnet, der Fahrer nutzt ein Diensthandy. Dabei legen sie nur wenige Kilometer Fahrstrecke zurück. Der Paketwagen ist für sie das Mittel, damit sie die Sendungen nicht zu Fuß mitnehmen müssen. Ihre Arbeit in dem Wohnbezirk besteht vor allem aus Treppensteigen. Den ganzen Tag über geht es hoch und wieder runter, unzählige Stufen.
In fast jedem Gespräch mit Paketfahrern fällt dieser Satz: „Die Kunden werden aggressiver.“ Beschwerden darüber, der Paketbote hätte gar nicht oder zu lange geklingelt, gibt es täglich. Grundsätzlich sollen die Fahrer sich nie auf verbale Diskussionen einlassen, empfiehlt der Arbeitgeber, sondern die Situation beenden und den Ort verlassen.
Gerade sind Fahrzeugeinbrüche der „Klassiker“ im Zustellgebiet des DHL-Fahrers Belle. Kriminelle passen den Wagen beim Anhalten ab. Wenn der Fahrer durch die Seitentür aussteigt, öffnet jemand genau in dem Moment die hintere Tür und das möglichst geräuschlos. Der Fahrer bekommt davon oft gar nichts mit, drückt auf den Türschlüssel, denkt, sie sei verriegelt und geht mit seinem Paket zur Empfängeradresse. Die Täter steigen in das Fahrzeug ein, nicht selten übernehmen Kinder diesen Teil. Wenige Sekunden später sind sie mit den gestohlenen Sendungen verschwunden.
Oder eine Diebesbande liest per Computer die Funksignale der Türschlösser aus und verhindert, dass die Hecktür abgeschlossen werden kann. „Zwei bis drei Aufbrüche im Monat haben wir in unserem Gebiet“, sagt Sven Görke, der bei DHL als Niederlassungsleiter Berlin den Paketversand leitet. Die Täter seien sehr schnell. Der Verdacht ist, dass Waren im Internet bestellt und die Auslieferungen gezielt abgepasst werden. Als Reaktion baut DHL nun Kameras in den Innenraum der Wagen ein und installiert Alarmanlagen mit lautem Signallärm.
Auch das kommt vor: Paketbote Belle war in einem Wohnhaus, in dessen Eingangsbereich Menschen zusammensitzen und Drogen nehmen. Einer von ihnen stiehlt ein Paket von der Sackkarre, als der Fahrer an der Tür des Empfängers klingelte. Belle rannte dem Mann hinterher und fand die Sendung in einem Mülleimer. Beim Verlust eines Pakets haftet der Fahrer, wenn er nicht nachweisen kann, dass ihn keine Schuld trifft.
In anderen Wohnhäusern ist nicht der Eingang, sondern der Aufzug ein Horror für ihn. „In diesem Haus bin ich einmal im Fahrstuhl stecken geblieben. Die Feuerwehr musste mich befreien“, sagt der DHL-Fahrer. Kostbare Zeit auf seiner Tour, auf der er große Mengen bewältigen muss: „20 Pakete in der Stunde sollen wir schaffen, an manchen Tagen ist das Science-Fiction.“
Ein Kunde sieht den Fahrer auf der Straße, spricht ihn an und will sein Paket direkt ausgehändigt bekommen. Die Boten müssen jedoch die Adresse abgleichen und dürfen die Sendung nur vor Ort übergeben. Einmal, erinnert sich Belle, stellte sich ein Kunde daraufhin vor den Wagen und blockierte die Weiterfahrt, bis die Polizei kam.
Vor einigen Wochen hatte der Paketbote Ärger mit einem Fahrradpolizisten, erzählt er. Er parkte seinen Wagen in der zweiten Reihe, schaute den Polizisten an, beide hätten einander gegrüßt. Er ging mit dem Paket zum Empfänger, kam zurück und der Beamte stellte gerade einen Strafzettel über 85 Euro aus. Auf die Frage, warum er nicht gleich etwas gesagt habe, habe er keine Antwort bekommen, sagt Belle.
Kaum etwas ist Paketboten fremd. „Mir hat zuletzt bei einer Paketzustellung ein Mann die Tür aufgemacht, der splitternackt war“, sagt der Berliner Kurierunternehmer Martin Schmidt. Er ist Gründer von Cycle Logistics mit 25 Mitarbeitern. Seine Reaktion: Er schaute dem Kunden direkt in die Augen, übergab das Paket und machte sich rasch davon. Eine Anzeige wegen sexueller Belästigung stellte er nicht. In einem anderen Fall hat eine betroffene Paketbotin dies sehr wohl getan. Zudem beklagt Schmidt, es sei eine Riesenherausforderung, einen Nachbarn für die Paketannahme zu finden, wenn der Empfänger nicht zu Hause sei.
Vom Hund gebissen, dann gestürzt
Die meisten Paketdienste – jenseits vom Ex-Staatsunternehmen Deutsche Post – sind nicht mit eigenen Fahrern, sondern mithilfe mittelständischer Unternehmer unterwegs. Diese Vertragsunternehmer fahren für UPS, GLS, Fedex oder DPD und Hermes Pakete aus. Auch sie berichten von negativen Erfahrungen. „In einem zehnstöckigen Haus muss einer meiner Fahrer ein Paket abgeben, der Empfänger ist nicht zu Hause. Der Fahrer klingelt bei vielen anderen Bewohnern. Niemand ist bereit, die Sendung anzunehmen“, sagt Andreas Weinhut, Geschäftsführender Gesellschafter im eigenen Logistikunternehmen in Neutraubling bei Regensburg.
Ein anderes Ärgernis: Einer seiner Fahrer ist in einer Siedlung aus Einfamilienhäusern unterwegs, nirgends herrscht Enge auf den Straßen. Der Bote stellt seinen Wagen auf dem Bordstein vor dem Haus des Empfängers ab. Zwei Minuten später sieht er beim Zurückkommen, wie ein Mitarbeiter der kommunalen Verkehrsüberwachung ihm einen Strafzettel schreibt. „Zumindest fragwürdig“ seien derartige Regeln, sagt Weinhut. Ebenso rücksichtslos seien Kunden, die in ihrem Vorgarten kein Warnschild vor ihren Hunden aufstellen. Das kann Folgen haben: Einer seiner Fahrer wurde derart gebissen, dass er zu Boden stürzte und sich die Hüfte brach.
Alltagsrassismus gehört nach vielen Schilderungen auch zum Arbeitsalltag. Seine ausländischen Fahrer sollten doch dahin gehen, wo sie hergekommen seien, zitiert Weinhut einen Satz. Ein krasser Fall: Auf einer Landstraße regte sich der Fahrer eines SUVs über ein Fahrmanöver des Paketboten derart auf, dass er sich vor ihn setzte, eine Vollbremsung machte und einen Auffahrunfall auslöste. „Dann bist du auch noch so ein Araber“, habe der Mann danach gerufen. Vor Gericht wurde der Paketfahrer freigesprochen. Die Bordkamera hatte die bewusste Vollbremsung dokumentiert.
Arbeitgeber und Politik sollten Postboten schützen, fordert Gewerkschaftschefin Dahlhaus. „Besonders aggressive Kunden könnten von der Zustellung ausgeschlossen werden.“ Maßnahmen wie Deeskalationstrainings reichten nicht aus. „Es muss auch einmal jemand aus dem Management mit den Paketboten rausfahren und auf den Touren helfen“, sagt Dahlhaus und berichtet von einem weiteren Fall: Ein Kunde hatte seinen Briefkasten mit Rasierklingen präpariert und Verletzungen provoziert. Eine Postbotin, die dies bemerkte und unverletzt blieb, zeigte ihn an.
Birger Nicolai ist Wirtschaftskorrespondent in Hamburg. Er berichtet über Schifffahrt, Logistik, den Tankstellen- und Kaffeemarkt sowie Mittelstandsunternehmen.